Oldtimer

Panorama: Mercedes im Vergleich der Generationen - Wie E und je

  • In OLDTIMER
  • 22. April 2016, 11:35 Uhr
  • Benjamin Bessinger/SP-X

Mehr Bildschirme als daheim im Wohnzimmer, mehr Rechenleistung als in einer Boeing 747 und selbst beim Überholen hilft der Autopilot - wer in die neue Mercedes E-Klasse steigt, fühlt sich wie Captain Future. Erst recht, wenn man vorher die gesamte Ahnengalerie durchgefahren hat.

Einfach einsteigen und losfahren - so leicht macht es einem die Mercedes E-Klasse nicht. Im Modelljahr 2016 kann man die Limousine zwar mit dem Smartphone öffnen und dank Keyless-Go bleibt der Zündschlüssel in der Tasche. Doch diese E-Klasse hier hat schon ein paar Jahre mehr auf dem Buckel. Denn wir sitzen nicht in der frisch eingeführten Baureihe 213, sondern in einem W 136, bis zu dem die Schwaben die Ahnenfolge ihrer Erfolgsbaureihe zurückverfolgen. Und dort muss man nicht nur den dünnen Schlüssel in ein hakeliges Schloss friemeln. Danach muss man auch noch am Griff eines Anlassers drehen, für den man vorher durchaus ein bisschen Hanteltraining machen sollte. Der Begriff ,,Kraftfahrer" kommt schließlich nicht  von ungefähr.
 
Das Anlassen ist etwas gewöhnungsbedürftig und sonderlich schnell ist der rüstige Rentner mit seinem gemütlich grummelnden 40 PS-Diesel auch nicht. Schon kurz jenseits der Schrittgeschwindigkeit hat man den ersten Gang ausgedreht, der zweite reicht bis 40, der dritte bis 60 und viel mehr als 80 km/h schafft die Limousine selbst bergab oder mit Rückenwind nicht. Doch wenn er mal läuft, dann läuft er. Man sinkt tief in die weichen Sessel, am großen Rad hält man den Wagen leicht auf Kurs und selbst mit der am Lenkrad angeschlagenen H-Schaltung findet man sich überraschend schnell zurecht: ,,Eine E-Klasse bleibt eben eine E-Klasse und ließ sich schon immer kinderleicht fahren", sagt einer aus der Mannschafft, die das aktuelle Modell entwickelt hat.
 
Zwar ist der 170er erst 1947 auf den Markt gekommen, doch seine Konstruktion stammt noch aus den Dreißigern und auch die moderne Federung an der Vorderachse kann nicht darüber hinweg täuschen, dass der gemütliche Riese mit den Sofa-Sesseln, den Echtholz-Rahmen um die Scheiben und den wunderbaren Klöppel-Griffen an den Türsäulen eigentlich ein Vorkriegsauto ist.
 
Umso größer ist der Schritt, den Mercedes 1953 mit dem 180 D aus der Baureihe W 120 gemacht hat. Der ,,Ponton" war schließlich nicht nur der erste Pkw aus Stuttgart mit einer selbsttragenden Karosserie und markiert so endgültig den Abschied vom Kutschbau. Er war auch sonst ein fortschrittliches, extrem leicht fahrbares Auto, in dem man sich bis heute nicht wie in einem Oldtimer fühlt. Das haben ihm 1953 bereits die Kollegen der ,,Auto, Motor und Sport" in einem Test ins Stammbuch geschrieben: ,,Vor allem spricht es für seine über die Maßen leichte Bedienbarkeit, Handlichkeit und Fahrsicherheit, dass man ihn, obwohl er schließlich nicht gerade klein, leicht und langsam ist, ohne jegliche Vorbereitung bestens in der Hand hat, dass man sich in ihm sofort heimisch und sicher fühlt, dass man vom ersten Augenblick an bedenkenlos bis an die Grenze seiner durch Motor und Fahrwerk gegebenen Möglichkeiten gehen kann."
 
Gut und gutmütig mag der Ponton ja gewesen sein. Aber Glanz und Gloria hält in der Ahnenfolge erst ab 1961 mit der Baureihe W 110 Einzug: Vor allem auf den Geschmack der US-Kunden ausgerichtet und von deren Straßenkreuzern inspiriert, trägt die neue Limousine für die gehobene Mittelklasse schließlich nicht nur jene Heckflossen, die der Volksmund zum Namen gemacht hat. Auch das Cockpit sieht mit seinen vertikalen Balkengrafiken für Tempo und Drehzahl ziemlich futuristisch aus. Einem Mercedes-Fahrer jener Zeit jedenfalls muss das so ungewöhnlich vorgekommen sein wie heute die beiden riesigen Displays, die hinter dem Lenkrad der aktuellen E-Klasse verschmelzen.
 
Und das ist nicht das einzige, was beim Wiedersehen mit der Heckflosse auffällt. Vor allem die Hinterbänkler genießen diesen Teil der Ahnenreise wegen der nie wieder erreichten Beinfreiheit im Fond. Nicht dass die aktuelle E-Klasse ein außen kleines und innen enges Auto wäre. Aber wenn einem Baureihenleiter Michael Kelz von der Beinfreiheit im Fond vorschwärmt, dann sollte er sich bisweilen mal in eine der früheren Generationen setzen - dann fühlt sich der Fond des 213er plötzlich verdammt nach Air-Berlin an.
 
Das Gefühl von Größe und damit eine gewisse Gelassenheit sind auch die bestimmenden Eindrücke von den Nachfolgern W 115/W114 (ab 1968) und dem 1976 vorgestellte W 123. Selbst wenn der legendäre ,,Strich-Acht" alles andere als ein schnelles Auto war und sich zurecht den Spitznamen der Wanderdüne verdient hat, fühlt man sich in dem Auto noch heute so erhaben, wie einer, der es aus eigener Kraft zu etwas gebracht hat. Dass man dieses Gefühl damals im ersten Millionseller von Mercedes mit ziemlich vielen Menschen teilen musste, tut der erhebenden Erfahrung keinen Abbruch. Und auch der 123er ist noch immer etwas ganz besonders - selbst wenn es davon sogar 2,8 Millionen Exemplare gegeben hat.
 
Die Neuzeit für die E-Klasse beginnt 1984 mit der Baureihe 124, selbst wenn die erst ab 1993 erstmals und offiziell das E im Typenkürzel trägt. Denn auch wenn die Limousine schlanker wird und innen nicht mehr ganz so großzügig ist, akzeptiert man sie sogar nach heutigen Stand noch als modernes Auto: Die Fensterheber und die Spiegel endlich elektrisch, in der Mittelkonsole ein Bedienteil für die Klimaanlage und rechts vom Tacho sogar schon ein Bordcomputer - auch wenn der damals noch Reiserechner genannt wurde - ein bisschen Captain Future schwingt da schon mit. Umso verwunderlicher ist es, dass die Limousine mittlerweile auch schon ein H im Kennzeichen trägt und deshalb offiziell zum Museumsfuhrpark zählt.
 
Zwar sind die Nachfolger aus den Baureihen 210, 211 und 212 dagegen noch einmal einen ganzen Schritt weiter, doch das Aha-Erlebnis beim Umstieg in die neue E-Klasse bleibt: Vor allem das riesige Cinemascope-Cockpit und die Assistenzsysteme machen den Unterschied.
 
Natürlich gibt es rein konstruktiv bis auf den Stern und die vier Räder nicht mehr viel, was die aktuelle E-Klasse der Baureihe W213 mit ihren Ahnen gemein hat. Doch egal ob Ponton, Heckflosse oder Strich-Acht - jedes Auto in seiner Zeit betrachtet, sind sich die Generationen mit ihrem jeweiligen technischen Anspruch näher als man glaubt. Und es gibt noch etwas, was die Familie eint: Das gute Gefühl, einzusteigen und sich ohne zu suchen sofort zurecht zu finden.
 

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