80 Jahre Mercedes-Benz 170 (W 136)

80 Jahre Mercedes-Benz 170 (W 136) - Diesel und Downsizing lernen laufen

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  • 27. Juni 2016, 15:14 Uhr
  • Wolfram Nickel/SP-X

Er ist der erste Mercedes der Moderne. Mit dem Modell 170 präsentierten die Stuttgarter den Urvater der heutigen E-Klasse. Eine Vorkriegskonstruktion der gehobenen Mittelklasse, die den Diesel in die Großserie einführte und so auch das Wirtschaftswunder der jungen Bundesrepublik beschleunigte.

Er verfügte schon vor 80 Jahren über Qualitäten, mit denen noch heute die aktuelle Mercedes-Benz E-Klasse Maßstäbe in der Businessclass setzt: Fahrkomfort, Leichtbau und Downsizing, damit sorgte der Mercedes-Benz 170 V im Jahr 1936 für Furore - und deklassierte so nebenbei selbst technische Avantgardisten wie den Citroen Traction Avant oder den Lancia Aprilia. Vor allem aber gelang es dem in gleich 16 verschiedenen Karosserievarianten verfügbaren Mercedes des Baumusters W 136, die Marke im Zeichen des Sterns in der Spitzengruppe der deutschen Verkaufscharts zu platzieren.
 
Möglich machten dies allerdings betont biedere Karosseriekleider und bürgerliche Preise, denn dezent verpackter technischer Fortschritt verkaufte sich schon damals besser als mutige modische Formen. Ersetzte im Mercedes 170 V zunächst ein neu entwickelter, 28 kW/38 PS freisetzender Vierzylinder den im Vorgänger verwendeten, phlegmatischeren Sechszylinder, gab es 13 Jahre später wahlweise einen revolutionären 170 D. Trotz laut nagelnder Verbrennung begeisterten sich für diesen sensationell sparsamen und erstaunlich schnellen 1,8-Liter-Selbstzünder-Pionier erstmals nicht nur Taxifahrer, sondern auch Privatkunden. Ausgerechnet in einem Vorkriegsoldie gelang dem Diesel-Pkw so der Durchbruch in die Großserie.
 
Mit heutigen Augen betrachtet, wirkt der Mercedes 170 V nicht nur konservativ, sondern urzeitlich wie die meisten Oldtimer aus der Vorkriegsära. Vor 80 Jahren aber markierte dieser Benz den Beginn der automobilen Neuzeit, zumindest was Effizienz und Leistungsvermögen betrifft. Statt eines konventionellen Kastenrahmens vertraute der damals jüngste Mercedes für den Traum vom Wohlstand auf einen verwindungssteiferen und 80 Kilogramm leichteren X-Ovalrohr-Rahmen und auf vergleichsweise kompakte Karosserieabmessungen von nur 4,27 Meter Länge. Damit war der - überdies überraschend kostengünstige - kleine Sternenkreuzer bis zu 60 Zentimeter kürzer als die vergleichbare Konkurrenz etwa von Hanomag, Opel, und Citroen, die er im Prestige trotzdem überragte. Vertraute doch die deutsche Prominenz der 1930er Jahre vor allem auf großvolumige Modelle von Audi, Horch sowie Maybach - und eben Mercedes, die es aber als Einstiegsmodelle zu relativ bezahlbaren Konditionen gab.
 
Kompakte Karosserien zu günstigen Preisen, dafür zeichnete der legendäre Mercedes-Chefkonstrukteur Hans Nibel verantwortlich, der 1934 auch die Entwicklung des 170 V vorantrieb. Den Begriff des heutigen Downsizing gab es damals zwar noch nicht, aber Nibel konstruierte in diesem Sinn. So sollte der kommende Benz der Businessclass von einem 1,7-Liter-Vierzylinder angetrieben werden, der nicht nur sparsamer, sondern auch leistungsfähiger war als der vorherige Sechszylinder im abzulösenden Typ 170 (W 15). Eine Aufgabenstellung, die nach Nibels plötzlichem Tod ab 1935 vom neuen Technischen Direktor Max Sailer gelöst wurde.
 
Tatsächlich debütierte auf dem Berliner Autosalon 1936 deshalb nicht nur der Mercedes 260 D als Diesel-Pkw-Pionier, sondern auch das Duo aus 170 V und 170 H, beide mit dem neuen Ottomotor unter der Haube. Die Mercedes-Kundschaft dachte konservativ, weshalb der modische 170 H (H für Heckmotor) nach wenigen Jahren ins Nirvana entschwand. Dagegen verzichtete der 170 V (V für vorn angeordneter Motor) nicht nur auf das Mitte der 1930er Jahre angesagte Aerodesign, die Kraftwerkskonstruktion beließ es zudem bei althergebrachten stehenden Ventilen. Andererseits bewirkte die aufwändige, sogenannte schwebende Motorlagerung eine Laufkultur, die fast einem Sechszylinder entsprach. Hinzu kamen hydraulische Bremsen und eine vordere Einzelradaufhängung mit hinterer Zweigelenk-Pendelachse. Ein Fahrzeugkonzept, das sogar die französische Prestigemarke Panhard überzeugte, die deshalb um eine Lizenzfertigung ersuchte. Und selbst um 1950 äußerte sich die Fachpresse noch begeistert über die ,,bestens bewährte Vorkriegsschöpfung".
 
Den Zweiten Weltkrieg hatte die bis dahin meistgebaute Mercedes-Reihe aller Zeiten jedoch nicht unbeschadet überstanden. Die Daimler-Benz-Werke lagen ebenso in Trümmern wie der Rest des Landes. Vorbei die Zeit unüberschaubar vielfältiger Karosserievarianten beim 170 V, die neben geschlossenen Limousinen, Cabriolets, Roadstern und Nutzfahrzeugen sogar geländetaugliche Allradler- und Jagdwagen mit Vierradlenkung umfasste. Was blieb, waren die Fahrgestelle, deren Fertigung schon 1946 mit Pritschen-, Kasten- und Krankenwagenaufbauten für Behörden anlief. Ein Jahr später folgte die Limousine und später offene Tourenwagen, für die Privatleute noch Anfang der 1950er Jahre Lieferzeiten von 18 Monaten auf sich nahmen. Bester Beweis dafür, wie begehrt der optisch zum Oldie gereifte Benz blieb - auch in der neuen Welt des Pontondesigns von Borgward Hansa oder Alfa Romeo 1900. Sanfte Kosmetik genügte, um den Wagen mit steilem Stern auf der Haube à jour zu halten.
 
Schien die Karosserie des 170 V manchen Designkritikern nichtsdestotrotz muffig-restaurativ, lieferte die Baureihe W 136unter dem Blech eine zukunftsweisende Neuheit: Den sparsamen Diesel für alle. Der intern Oelmotor genannte, 28 kW/38 PS abgebende Selbstzünder wurde nach der Währungsreform im Jahr 1949 eingeführt und entwickelte sich auf Anhieb zum Bestseller, da vorläufig nur Dieselkraftstoff ohne Engpässe lieferbar war. Aber auch danach hielt der Diesel-Hype an, zumal Mercedes schon 1950 die Leistung auf 29 kW/40 PS steigerte. Stolz wie sonst allenfalls V12-Insignien prangte ein chromglänzender Diesel-Schriftzug am Kühlergrill des 170 D, der übrigens auf dem Kurbelgehäuse des 170-Benziners aufbaute und identische Zylinderabmessungen besaß.
 
Zeitgenössische Testfahrer bescheinigten dem unter Last schwarze Rußwolken ausstoßenden 170 D fast sportliche Fahrleistungen, die kaum hinter dem Benziner zurückblieben. In Zahlen bedeutete das eine Vmax von 105 bis 108 km/h und eine runde Gedenk-Minute für den ,,Sprint" von Null auf Tempo 100. Der eigentliche Vorteil für den im Vergleich zum 170 V mehr als 1.000 Mark teureren Diesel lag natürlich in seinem knausrigen Kraftstoffkonsum. Die Presse ermittelte sechs bis sieben Liter pro 100 Kilometer und damit 40 Prozent weniger als der Benziner benötigte. Abgesehen von der rauen Laufkultur und dem langen Vorglühvorgang - im Winter bisweilen bis zu einer Minute -  konnte dieser erste schnelllaufende Großserien-Diesel schon mit dem Talent aufwarten, das Selbstzünder so erst in den 1980er Jahren wieder entdeckten: Flotte Fortbewegung, die nicht hinter der eines Benziner zurückblieb.
 
Die Stunde des Abschieds kam für die Mercedes 170 V und 170 D im Jahr 1953, denn in jenem Jahr kam das neue Pontonmodell 180 (W 120) ohne Trittbretter und ohne separate Kotflügel in den Handel. Groß war anfänglich das Gezeter der Traditionalisten, denen der moderne Mercedes 180 zu wenig repräsentativ erschien. Ein Abschiedsschmerz, den die Baureihe W 136 durch ihre Langzeitqualitäten milderte, noch in den 1960er Jahren waren die 170er im Straßenbild gegenwärtig.

Modellhistorie Mercedes-Benz 170 V und 170 D:
 
Chronik:
1934: Federführend für die Konstruktion des 170 V ist zunächst Entwicklungsvorstand Dr. Hans Nibel, der im November stirbt. Neuer Verantwortlicher wird Max Sailer
1935: Vorserienanlauf für 170 V, der ursprünglich sogar mit einem 1,6-Liter-Motor geplant worden war
1936: Weltpremiere des 170 V (V wie vorn positionierter Motor) im Februar auf der Berliner Internationalen Automobil- und Motorradausstellung (IAMA), parallel zu den Typen 170 H (mit Heckmotor) und 260 D (erster Serien-Diesel). Der Typ 170 V (W 136) ersetzt den Typ 170 (W 15). Der 170 V entwickelt sich zum meistgebauten Mercedes-Benz-Pkw der Vorkriegszeit mit insgesamt rund 70.000 Einheiten. Als Fahrgestell kostet der 170 V ab 2.850 Mark, als zweitürige Limousine ab 3.750 Mark, als viertürige Limousine ab 3.850 Mark als zweitüriger Tourenwagen ab 4.500 Mark, als viertüriger Tourenwagen (ab 1938) ab 4.600 Mark, der Roadster ab 5.500 Mark, das Vier-Fenster-Cabriolet (B) ab 4.750 Mark und das Cabriolet (A) ab 5.980 Mark. Dank des erfolgreichen 170 V wird Mercedes-Benz drittgrößter deutscher Autohersteller hinter Opel und DKW. Gegenüber 1935 kann Mercedes die Jahresproduktion fast verdoppeln 
1937: Auch als Lieferwagen erhältlich zu Preisen ab 3.900 Mark und als Kübelwagen zu Preisen ab 4.350 Mark
1938: Die Allrad-Modelle 170 VG (Gelände) bzw. 170 VS (Geländesportwagen) und 170 VL (Vierradlenkung) werden als Jagdwagen angeboten. Der 170 V zweitüriger Tourenwagen wird ersetzt durch einen Viertürer. Neu ist eine Kraftdroschke mit Trennscheibe und Kofferbrücke, die als Limousine ab 3.750 Mark und als viertürige Cabrio-Limousine ab 3.850 Mark kostet
1939: Mehr Tankvolumen (43 statt 33 Liter). Der 170 ist außerdem mit Gas-Generatorenanlage lieferbar, als Brennmaterialien dient Holz (15 Kilogramm/100 km). Optional auch mit Kohle, Torf, Holzkohle etc.
1940: Vollsynchronisiertes Vierganggetriebe (bis dahin nur dritter und vierter Gang synchronisiert)
1946: Ab Juni werden Mercedes 170 als Pritschenwagen, Kastenwagen und Krankenwagen für behördliche Nutzung gebaut
1947: Im Juli läuft mit dem 170 V (Baumuster W 136 I) bei Mercedes-Benz die zivile Pkw-Produktion wieder an. Zunächst nur als Limousine und nur in schwarzer Lackierung. Die Werkzeuge für alle anderen Karosserien sind im Krieg zerstört worden. Im Oktober feiert Mercedes die Auslieferung des 1.000sten Fahrzeugs vom Typ 170 V. Schon seit März läuft der für den Mercedes 170 vorgesehene Oel-Motor OM 636 (Diesel) im Unimog, der im März 1949 in Serie geht
1949: Im Rahmen einer Modellpflege wird der Motor des 170 V höher verdichtet und die Instrumente werden modifiziert. Am 20. Mai enthüllt Daimler-Benz auf der Technischen Exportmesse Hannover den Diesel-Pkw Mercedes 170 D (W 136 I) mit 1,7-Liter-Diesel. Das erste Kundenfahrzeug wird am 1. August ausgeliefert
1950: Im Mai Produktionsanlauf des 170 Da mit leistungsgesteigertem 1,8-Liter-Diesel, im selben Monat startet auch der 170 V mit 1,8-Liter-Benziner. Vom Diesel werden auch Fahrgestelle und Kastenwagenversionen angeboten. Die modellgepflegten 170er sind auch an dem von außen zugänglichen Kofferraum erkennbar. Frontscheibe aus Verbundglas
1952: Im Mai Fertigungsstart des modellgepflegten Selbstzünders 170 Db und des Benziners 170 Vb mit größerer Frontscheibe, serienmäßiger Ersatzradvollverkleidung etc. Neu ist ein Offener Tourenwagen Polizei (OTP), mit dem auch der neue eingerichtete Bundesgrenzschutz (heute Bundespolizei) beliefert wird
1953: Produktionsauslauf für den Benziner 170 Vb im August und für den Diesel 170 Db im Oktober
 
Wichtige Daten Mercedes 170 V und 170 D (W 136):
Mercedes-Benz 170 V (Serie W 136 I, 1936-1942) mit 1,7-Liter-Vierzylinder-Benziner (28 kW/38 PS), Vmax 108 km/h;
Mercedes-Benz 170 VG (Serie W 136 I G, 1939-1942) mit 1,7-Liter-Vierzylinder-Ottomotor und Holzgasgenerator (16 kW/22 PS), Vmax 80 km/h;
Mercedes-Benz 170 VK (Serie W 136 I K, 1938-1942) mit 1,7-Liter-Vierzylinder-Ottomotor (28 kW/38 PS);
Mercedes-Benz 170 VS (Serie W 136 I S, 1938-1939) mit 2,2-Liter-Benziner (37 kW/50 PS), Vmax 110 km/h;
Mercedes-Benz 170 V (Serie W 136 I, 1947-1950) mit 1,7-Liter-Vierzylinder-Benziner (28 kW/38 PS), Vmax 108 km/h;
Mercedes-Benz 170 D (Serie W 136 I, 1949-1950) mit 1,7-Liter-Vierzylinder-Diesel (28 kW/38 PS), Vmax 100 km/h;
Mercedes-Benz 170 Va/Vb (Serie W 136 VI, 1950-1953) mit 1,8-Liter-Vierzylinder-Benziner (33 kW/45 PS), Vmax 116 km/h;
Mercedes-Benz 170 Da bzw. Db (Serie W 136 VI, 1950-1953) mit 1,8-Liter-Vierzylinder-Diesel (29 kW/40 PS), Vmax 100 km/h.
 
Produktionszahlen:
Insgesamt 140.415 Mercedes-Benz 170 V (1936-1953),
davon 91.048 Einheiten (1936-1942) und 49.367 Einheiten (1946-1953).
Aufgeschlüsselte Einzeltypen
Mercedes-Benz 170 VK Kübelsitzwagen (1938-1942), insgesamt 19.075 Einheiten.
Mercedes-Benz 170 V (Serie W 136 I, 1947-1950), insgesamt 25.414 Einheiten;
Mercedes-Benz 170 Va (Serie W 136 VI, 1950-1952), insgesamt 20.471 Einheiten;
Mercedes-Benz 170 Vb (Serie W 136 VI, 1952-1953), insgesamt 3.482 Einheiten.
 
Insgesamt 33.822 Einheiten Mercedes-Benz 170 D (1949-1953),
davon aufgeschlüsselte Einzeltypen
Mercedes-Benz 170 D (Serie W 136 I Diesel, 1949-1950), insgesamt 3.712 Einheiten
Mercedes-Benz 170 Da (Serie W 136 VI Diesel, 1950-1952), insgesamt 19.456 Einheiten
Mercedes-Benz 170 Db (Serie W 136 VI Diesel, 1952-1953), insgesamt 10.655 Einheiten. Hinzu kommen Kastenwagen und Fahrgestelle.

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