Autofahrer

Die mid-Zeitreise: Am Steuer ändert sich der Charakter

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  • 22. Juni 2017, 16:07 Uhr
  • Jutta Bernhard

Am 10. Juli 1967 berichtete der mid im 16. Jahrgang über Raser im Automobil


Die Sagen vieler Völker berichten von geheimnisvollen Mitteln, deren Besitz oder Einnahme dem Einzelnen die Kräfte eines Riesen verleiht. Dieser alte Menschheitstraum von der Überlegenheit an Kraft ist nie ausgestorben. Das heutige technische Zeitalter aber bringt die Verwirklichung für jedermann, ohne geheimnisvolle Mittel allein durch den Besitz eines Autos, das den Menschen zum Herrscher über ein Vielfaches seiner eigenen Kraft und Schnelligkeit werden lässt.

Steigerung nach PS-Zahl
Psychologen weisen immer wieder darauf hin, dass mit diesem subjektiven Machtgefühl am Steuer die Bereitschaft zur Aggression sich unter gewissen Umständen in demselben Maße erhöhen kann, wie die Höhe der unter der Motorhaube schlummernden PS. Und es ist eine ebenso bewiesene Tatsache, dass das Automobil das seelische Verhalten des Fahrzeuglenkers zu beeinflussen, ja zu ändern vermag wie kaum ein anderes technisches Erzeugnis unserer Zeit.

Die Prädestinierten
Der Grazer Neurologe Doz. Dr. med. O. Eichhorn schrieb in der "Ärztliche Praxis" folgende nachdenklich stimmenden Sätze: "Im Hinblick auf die enorme Gefährlichkeit des modernen Kraftfahrzeugverkehrs besitzt der Führerschein als Dokument mindestens eine solche Bedeutung wie eine Geburtsurkunde. Gerade der körperlich Behinderte oder Kranke, der im täglichen Leben benachteiligte oder auch physisch Abnorme, werden als Fahrzeuglenker der Faszination der enormen Zunahme an Kraft und Schnelligkeit eher unterliegen als ein gesunder und psychisch ausgeglichener Mensch.

Die moderne Tarnkappe
Überdies bleibt er im fließenden Straßenverkehr weitgehend anonym und unerkannt. Man schaut viel mehr auf die Zulassungsnummer und die Wagentype als auf die Person, die am Steuer sitzt. Es braucht kein besonderes psychologisches Einfühlungsvermögen, um einzusehen, dass diese Art einer modernen Tarnkappe ständig den Aggressionstrieb reizt und Aggressionen provoziert. Immer wieder ist es denn auch zu beobachten, dass sonst durchaus friedfertige und ruhige Menschen sich am Steuer eines Fahrzeuges unerhört aggressiv verhalten und von einer merkwürdigen Veränderung ihres Wesens befallen werden".

Zulassung, noch problematischer
Der gesunde, psychisch ausgeglichene Mensch ist, wie bereits erwähnt, weniger gefährdet dem Aggressionstrieb am Steuer zu unterliegen. Aber wie groß ist die Zahl jener, welche im privaten oder geschäftlichen Leben unbefriedigt sind, wie groß die Zahl jener mit psychischen Schwächen, die sich vielfach kaum manifestieren und daher auch kaum von der Öffentlichkeit erfasst werden können? Wenn erwiesenermaßen der größte Anteil der Straßenverkehrsunfälle auf das Konto des menschlichen Versagens gebucht werden, dann drängt sich immer mehr die Einsicht auf, dass die Auswahl der zum Verkehr zuzulassenden Bewerber ein bis heute noch zu wenig bewältigtes Problem darstellt.

Anmerkung der Redaktion:
Manche Dinge ändern sich in 50 Jahren nicht!

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