Tradition: 50 Jahre Mercedes-Benz W 114/115 (Strich-Acht-Typen 200 D-280 E)

Tradition: 50 Jahre Mercedes-Benz W 114/115 (Strich-Acht-Typen 200 D-280 E) - Mehr Mitte wagen

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  • 18. Dezember 2017, 12:53 Uhr
  • Wolfram Nickel/SP-X

Ein Mercedes als Volksauto? Der legendäre Strich-Acht machte es möglich. In einer Zeit, als die Jugend rebellierte, revolutionierte die Marke fürs Establishment mit ihrem ersten Millionenerfolg die Mittelklasse. Die sachlich geformten Typen 200 D bis 280 E passten Generaldirektoren ebenso wie Studierenden - dann als alte Gebrauchte

Er passte perfekt in eine Zeit, die aus den gewohnten Fugen geraten war. Der vor einem halben Jahrhundert vorgestellte ,,kleine Mercedes" - von allen Fans nur Strich-Acht genannt - war ein echter 68er, denn er brach gesellschaftliche Tabus. Und er kam damit sogar Willy Brandt zuvor, der 1969 in seiner Regierungserklärung sagte: ,,Wir wollen mehr Demokratie wagen". Genau das gelang den vom Kult-Designer Paul Bracq in unvergänglich schlichter Eleganz gezeichneten Typen 200 D bis 280 E in der automobilen Premiumklasse. Statt auf Protz und Prunk wie die abgelösten großen Heckflossen-Modelle setzten die neuen, nur 4,68 Meter langen Mittelklasselimousinen auf Luxus für ein Millionenpublikum durch konkurrenzlose Typenvielfalt und innere Werte.
 
Dazu zählten die hintere Einzelradaufhängung an Schräglenkern und die wartungsfreie Vorderradaufhängung an doppelten Querlenkern ebenso wie Motoren für jeden Anspruch. Taxifahrer und Landwirte schworen auf den fast unzerstörbaren 40 kW/55 PS Diesel im 200 D - bevor dieser im Alter zum beliebten studentischen Fortbewegungsmittel avancierte und neben Renault R4 oder Citröen 2 CV vor der Mensa wartete. Konzernchefs und die Politprominenz präferierten dagegen die souveräne, aber äußerlich dezent verpackte Kraft des über 200 km/h schnellen Sechszylindertyps 280 E, der es leicht mit Oberklasse-Repräsentanten wie Opel Diplomat V8 oder den BMW Sechszylindern aufnehmen konnte.
 
Die Welt war 1968 im Rausch raketenschneller Veränderungen. In der Apollo 8 schossen Astronauten um den Mond, Stanley Kubricks Filmepos ,,Odyssee im Weltraum" wagte einen Blick ins 21. Jahrhundert, die Generation der Baby-Boomer brach mit gesellschaftlichen Konventionen und die automobile Mittelklasse demokratisierte Leistung und Luxus. Was zaghaft mit den Sechszylindern Opel Commodore GS/E und Ford 20 M TS begonnen hatte, kulminierte nun im Mercedes Strich-Acht. Motoren mit bis zu 136 kW/185 PS, das gab es bis dahin nur bei Sportwagen und in der starken Oberklasse. Entsprechend groß war die Sensation, als ausgerechnet die Stuttgarter Marke für das Besitzbürgertum in ihrer mittleren Baureihe in Einheitsform alle Ansprüche bediente, vom Knauser-Diesel bis zum Sechsender. Nicht zu vergessen das 110 kW/150 PS leistende Hardtop-Coupé 250 CE als erster Mercedes mit wegweisender elektronisch gesteuerter Einspritzanlage.
 
Ursprünglich sollte sich die Fahrzeugfront der intern W 114 und W 115 genannten Typen unterscheiden. Während für die Vierzylinder quer liegende, Rechteckscheinwerfer vorgesehen waren, sollten die Sechszylinder mit vertikalen Leuchten im Stil des Pagodendach-SL die Überholspur frei räumen. Stattdessen frönten in der Serienversion selbst die teuren 280er - als Coupé fast so kostspielig wie ein Porsche 911 - ganz dem Understatement. Nur winzigste Details wie die Stoßstangenlänge verrieten die Spitzenaggregate. Keinen Neid und keine soziale Missgunst wecken, diese in den 1970er Jahren angesagten gesellschaftlichen Tugenden erfüllte der Strich-Acht-Mercedes so vorbildlich, dass seine Vorreiterrolle noch 1974 bei der Pressevorstellung des Jaguar XJ 12 Erwähnung fand, denn der majestätische britische Zwölfzylinder trug fast die gleichen Kleider wie seine profanen Sechszylinder-Geschwister.
 
Mit diesem Modellprogramm im Einheitslook, in der Fachpresse mit Bezug auf die politischen Veränderungen ,,stilistischer Linksruck" genannt, traf Mercedes den Zeitgeist ins Herz. Der Strich-Acht prägte die Vor-VW-Golf-Generation und erreichte bis Ende 1976 fast zwei Millionen Zulassungen, mehr als bis dahin alle anderen Nachkriegs-Mercedes zusammen. Die größte Sensation gelang dem Bestseller ausgerechnet während der ersten Ölkrise, als der Benz den VW Käfer vom Thron stieß und zum neuen deutschen Verkaufschampion gekürt wurde. Nicht einmal der brandneue Golf konnte anfangs den inzwischen angejahrten, aber durch regelmäßige Modellpflegen attraktiv gehaltenen Sternträger in Bedrängnis bringen. Auch das konkurrenzlos große Motorenangebot von zehn parallel produzierten Aggregaten sicherte dem keineswegs preiswerten Strich-Acht anhaltende Popularität. Die Nachfrage blieb konstant hoch, so dass sich lange Lieferzeiten als Mercedes-Markenattribut etablierten und die Bauzeit des Strich-Acht am Ende um ein Jahr verlängert wurde, obwohl die nachfolgende W-123-Mittelklasse schon in den Schauräumen stand.
 
Schließlich verfügte bereits der Strich-Acht über zwei Erfolgsgeheimnisse, die sich Mercedes in dieser Form nur mit einem direkten Wettbewerber teilte. Wie der schwedische Autobauer Volvo schrieben die Schwaben Fahrzeugsicherheit und Langlebigkeit besonders groß. ,,Panzer" lobte deshalb die Presse die als Limousinen, Achtsitzer-Langversionen, Hardtop-Coupés und als Fahrgestell für Sonderaufbauten erhältlichen Sternenkreuzer, die mit den fast gleichzeitig lancierten Volvo 140 und 160 konkurrierten. Neben der Sicherheitsfahrgastzelle waren es viele Details, mit denen die Daimler-Ingenieure für Furore sorgten. Etwa die damals noch nicht selbstverständlichen servounterstützten Scheibenbremsen an allen vier Rädern, die vom Citroen DS inspirierte pedalbetätigte und per Zugknopf gelöste Feststellbremse, die per Unterdruck arretierten Vordersitzlehnen im Coupé, die originellen Schmetterlingsscheibenwischer und die ab 1973 analog zur S-Klasse eingeführten, geriffelten, schmutzabweisenden Rückleuchten.
 
Features, die in allen Situationen ein sichereres Gefühl tiefenentspannter Gelassenheit vermitteln sollten - wie es insbesondere die Fahrer des 40 kW/55 PS abgebenden Ölbrenners 200 D benötigten. Mehr als eine halbe Minute gönnte sich der phlegmatische Diesel bis seine Tachonadel die 100-km/h-Marke passierte und auch die minimal kräftigeren Typen 220 D und 240 D fühlten sich ihrem Ruf als Wanderdünen verpflichtet. Zum Ausgleich waren die Diesel unzerstörbar robust, was ihre Popularität bei Taxiunternehmern und Gebrauchtwagenkäufern fundamentierte. So ist ein 240 D Taxi bis heute der Mercedes-Benz mit der höchsten bekannten Kilometerleistung. Sein griechischer Besitzer hat mit dem rastlosen Viertürer 4,6 Millionen Kilometer zurückgelegt, ehe der Benz im Stuttgarter Werksmuseum zur Ruhe kam. Das klappte natürlich nur, wenn der serienmäßig unvollkommene Rostschutz nachgebessert wurde, aber diese Notwendigkeit gab es damals bei allen Marken.
 
Übrigens hatte Mercedes auch einen revolutionären Rußwolkenmacher im Angebot, denn der 240 D 3.0 schrieb 1974 Geschichte als erster Großserien-Fünfzylinder und galt als rasantester Diesel weltweit mit einer Vmax von 148 km/h. So schnell war kein Käfer und auch dem Golf mit Basismotor zeigte der Mercedes seine dunkle Abgasfahne. Die Dieselfans waren derart begeistert von dem in ihren Augen wilden und dennoch sparsamen Heißsporn, dass sie den hohen Kaufpreis bereitwillig zahlten, für den es alternativ schon noble englische V8 gab. Andererseits war der Kauf eines Strich-Acht eine Langzeitinvestition, wie die bis heute überlebende Zahl der H-Kennzeichen-Klassiker beweist.
 
 
 
Chronik:
1961: Entwicklungsstart für die neue Mercedes-Mittelklasse unter Fritz Nallinger. Für das Design zeichnet Paul Bracq verantwortlich, unterstützt von Bruno Sacco
1964: Designfindung geht ins Finale, Anfang 1965 fällt die Entscheidung gegen eine unterschiedliche Fahrzeugfront von Vier- und Sechszylindern
1965: Hans Scherenberg übernimmt die Projektleitung des Baureihen W 114/115. Ein neben Limousine und Coupé angedachter Kombi geht nicht in Serie
1967: Produktionsanlauf der Baureihen W 114/115 und internationale Pressefahrvorstellung auf Sizilien. Der ,,Strich-Acht", so genannt wegen seines Einführungsjahres, ersetzt die Baureihe W 110 mit den Typen 190 D - 230 (,,Heckflosse")
1968: Im Januar treten die Mercedes-Baureihen W 114/115 mit sechs Limousinen an. Die Typen 200 und 220 werden vom neuen Vierzylinder-Vergaser M 115 mit 2,0 Liter (70 kW/95 PS) oder 2,2 Liter Hubraum (77 kW/105 PS) angetrieben. In den Dieseltypen 200 D und 220 D arbeitet der ebenfalls neue Motor OM 615 in 2,0-Liter-Version mit 40 kW (55 PS) bzw. als 2,2-Liter mit 44 kW (60 PS). Der 2,3-Liter-Reihensechszylinder M 180 des Typ 230 stammt aus dem Vorgänger, er leistet 88 kW (120 PS). Neu kommt der 2,5-Liter-Reihensechszylinder M 114 mit 96 kW (130 PS). Im November folgen die Coupés 250 C und 250 CE und im Dezember die Limousine mit langem Radstand als Typ 220 D und 230.
1972: Die Experimental-Sicherheits-Fahrzeuge, mit denen Techniken wie Anti-Blockier-System und Airbag getestet werden, basieren auf dem Strich-Acht, so der ESF 05 (1971) und der ESF 13 (1972). Im April 1972 debütieren die Typen 280 und 280 E als Limousine und als Coupé mit neuem 2,8-Liter-Motor M 110. In der Vergaserversion leistet der Sechszylinder 118 kW (160 PS) und mit Saugrohreinspritzung 136 kW (185 PS). Optisches Erkennungszeichen der 280er ist eine bis zu den Radausschnitten reichende hintere Stoßstange sowie zwei Auspuff-Endrohre. Beim Coupé löst der 280 C den 250 CE ab
1973: Modellpflege für den Strich-Acht mit von innen verstellbaren Außenspiegeln und profilierten, verschmutzungsarmen Rückleuchten. Der Kühlergrill wird niedriger und breiter und die Ausstellfenster in den Seitenscheiben entfallen. Weil die Bugschürze dem Design der S-Klasse angeglichen wird, verlieren die Typen 250 bis 280 E nun - zusammen mit den Coupés - die typischen Doppelstoßstangen vorn, nur die lange hintere Stoßstange bleibt den 280 und 280 E als Merkmal. Der 48 kW/65 PS starke 240 D bildet die neue Spitze der Diesel-Modellpalette
1974: Im Juli startet der Typ 240 D 3.0 als erste Fünfzylinder-Diesel-Pkw in die Serienproduktion. Mit einer Beschleunigungszeit von 19,9 Sekunden für den Sprint auf Tempo 100 und einer Vmax von 148 km/h ist der 240 D 3.0 der spurtstärkste und schnellste Diesel-Pkw der Welt. Das Anlassen der Maschine erfolgt beim 240 D 3.0 per Zündschlüssel und nicht, wie bisher, durch Ziehen eines Hebels. Bis zum Bauende bieten die Typen W 114/W 115 nun eine Palette von zehn Motoren als 200, 230.4, 230.6, 250, 280, 280 E, 200 D, 220 D, 240 D und 240 D 3.0, damals außergewöhnlich. Im Jahr 1974 gelingt es dem ,,Strich-Acht" sowohl den VW Käfer als auch den Golf von der Spitze der deutschen Neuzulassungsstatistik zu verdrängen mit 140.127 verkauften Einheiten
1975: Im November erfolgt der Produktionsstart für die neue Baureihe W 123, wenig später die Pressevorstellung
1976: Am 28. Januar feiert der W 123 als Limousine sein Debüt in den Schauräumen der Mercedes-Händler. Die Produktion der Vorgänger-Baureihe 115/114 wird aber nicht etwa gleich eingestellt, sondern läuft noch das ganze Jahr bis Dezember weiter. Grund sind die langen Lieferzeiten für den neuen W 123
Wichtige Motorisierungen:
Mercedes-Benz 200 D mit 2,0-Liter-Vierzylinder-Dieselmotor (40 kW/55 PS), Vmax 130 km/h;
Mercedes-Benz 220 D mit 2,2-Liter-Vierzylinder-Dieselmotor (44 kW/60 PS), Vmax 135 km/h;
Mercedes-Benz 240 D mit 2,4-Liter-Vierzylinder-Dieselmotor (48 kW/65 PS), Vmax 138 km/h;
Mercedes-Benz 240 D 3.0 mit 3,0-Liter-Fünfzylinder-Dieselmotor (59 kW/80 PS), Vmax 148 km/h;
Mercedes-Benz 200 mit 2,0-Liter-Vierzylinder-Benziner (70 kW/95 PS), Vmax 160 km/h;
Mercedes-Benz 220 mit 2,2-Liter-Vierzylinder-Benziner (77 kW/105 PS), Vmax 168 km/h;
Mercedes-Benz 230 mit 2,3-Liter-Sechszylinder-Benziner (88 kW/120 PS), Vmax 175 km/h;
Mercedes-Benz 230.4 mit 2,3-Liter-Vierzylinder-Benziner (81 kW/110 PS), Vmax 170 km/h;
Mercedes-Benz 230.6 mit 2,3-Liter-Sechszylinder-Benziner (88 kW/120 PS), Vmax 175 km/h;
Mercedes-Benz 250/250 C mit 2,5-Liter-Sechszylinder-Benziner (96 kW/130 PS), Vmax 180 km/h;
Mercedes-Benz 250 CE mit 2,5-Liter-Sechszylinder-Benziner (110 kW/150 PS), Vmax 190 km/h;
Mercedes-Benz 250 mit 2,8-Liter-Sechszylinder-Benziner (103 kW/140 PS), Vmax 180 km/h;
Mercedes-Benz 280/280 C mit 2,8-Liter-Sechszylinder-Benziner (118 kW/160 PS), Vmax 190 km/h;
Mercedes-Benz 280 E/280 CE mit 2,8-Liter-Sechszylinder-Benziner (136 kW/185 PS), Vmax 200 km/h.
 
 
Ausgewählte Produktionszahlen
Insgesamt wurden 1.919.056 Fahrzeuge der Baureihen W 115/114 produziert (1967 bis 1976). Davon Limousinen in
187.873 Einheiten als 200 D (1968-1973, W 115 D 20),
152.054 Einheiten als 200 D (1973-1976, W 115 D 20),
345.376 Einheiten als 220 D (1968-1973, W 115 D 22),
67.453 Einheiten als 220 D (1973-1976, W 115 D 22),
126.148 Einheiten als 240 D (1973-1976, W 115 D 24),
53.690 Einheiten als 240 D 3.0 (1974-1976, W 115 D 30),
175.242 Einheiten als 200 (1968-1973, W 115 V 20),
113.543 Einheiten als 200 (1973-1976, W 115 V 20),
128.398 Einheiten als 220 (1968-1973, W 115 V 22),
87.609 Einheiten als 230.4 (1973-1976, W 115 V 23),
152.822 Einheiten als 230 (1968-1973, W 114 V23),
63.497 Einheiten als 230.6 (1973-1976, W 114 V23),
178.303 Einheiten als 250 (1968-1973, W 114 V25),
22.624 Einheiten als 250 (2,8 Liter) (1970-1973, W 114 V28),
11.437 Einheiten als 250 (2,8 Liter) (1973-1976, W 114 V28),
19.537 Einheiten als 280 (1971-1973, W 114 V 28),
25.000 Einheiten als 280 (1973-1976, W 114 V 28),
13.711 Einheiten als 280 E (1971-1973, W 114 E 28),
9.125 Einheiten als 280 E (1973-1976, W 114 E 28);
Coupés in
8.824 Einheiten als 250 C (1968-1972, W 114 V25),
10.527 Einheiten als 250 C (2,8 Liter) (1969-1973, W 114 V28),
21.787 Einheiten als 250 CE (1968-1972, W 114 E25),
8.227 Einheiten als 280 C (1973-1976, W 114 V 28),
3.942 Einheiten als 280 CE (1973-1976, W 114 E 28);
Limousinen mit langem Radstand in
4.027 Einheiten als 220 D lang (1968-1973, V 115 D 22),
1.082 Einheiten als 230 lang (1968-1973, V 114 V23),
3.655 Einheiten als 240 D lang (1973-1976, V 115 D 24),
1.131 Einheiten als 230.6 lang (1973-1976, V 114 V23).
 

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