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Panorama: Mercedes S-Klasse beim Intelligent World Drive - Autopilot auf Weltreise

  • In AUTO
  • 12. Januar 2018, 14:40 Uhr
  • Benjamin Bessinger/SP-X

Andere Länder, andere Sitten: Weil der Verkehr überall seine eigenen Regeln hat und man nicht jede Situation simulieren kann, hat Mercedes eine S-Klasse um die Welt geschickt, um die Assistenzsysteme zu trainieren. Wir haben die Entwickler auf Testfahrt in Shanghai begleitet.

Der junge Mann am Steuer der schwarzen Limousine ist genervt. Erst schwärmen seine Mercedes-Kollegen dem Chinesen von den vielen Assistenzsystemen in der frisch überarbeiten S-Klasse vor, die dem Fahrer mittlerweile selbst im Stadtverkehr die meiste Arbeit mit Lenkrad und Pedalen abnehmen. Und kaum lassen sie ihn damit durch seine Heimat Shanghai fahren, fiept die ganze Zeit ein Warnsignal, der ,,Intelligent Drive" sieht plötzlich ziemlich dumm aus und der Autopilot meldet sich regelmäßig ab.
 
Den Fahrer stört das gewaltig. Doch Oliver Schlageter reibt sich auf dem Beifahrersitz bei jeder Fehlfunktion die Hände. Denn der Ingenieur gehört daheim in Sindelfingen zu den Entwicklern des Intelligent Drive und war die letzten Monate auf einer Art Weltreise, um genau solchen Fehlern nachzuspüren: ,,Die Verkehrsregeln und vor allem das Verhalten der Verkehrsteilnehmer im Alltag ist in anderen Ländern so unterschiedlich, dass man die Systeme nicht allein am Simulator erproben kann", erläutert Schlageter. ,,Deshalb haben wir eine S-Klasse vier Monate lang über alle Kontinente geschickt und sind den Unterschieden vor Ort auf den Grund gegangen." Dabei ging es den Entwicklern nicht um die Bestätigung ihrer bisherigen Arbeit: ,,Wir wollen uns nicht beweisen, wie toll wir sind. Sondern wir wollen gezielt herausfinden, was die Systeme noch nicht können. Denn nur von den Fehlfunktionen können wir lernen."
 
Deshalb sind die Schwaben dorthin gegangen, wo es weh tut und haben sich entsprechend komplexe Situationen gesucht: Während sie in Deutschland die Autobahn und den Stau, in Australien den Digitalisierungsgrad der Landkarte, in Südafrika die Fußgängererkennung zum Finale in Las Vegas den ganz besonderen Umgang mit amerikanischen Schulbussen geprobt haben, ging es in Shanghai vor allem um den Verkehr in der Stadt und auf der Stadtautobahn. ,,Was man hier erlebt, ist mit dem Alltag in Deutschland nicht zu vergleichen," sagt Schlageter, während er sich von seinem Kollegen chauffieren lässt. ,,Nicht umsonst brauchen Ausländer hier einen anderen Führerschein." Und genau braucht die S-Klasse im Prinzip auch, erläutert der Entwickler während der Messfahrt.
 
Die Gründe dafür sind vielfältig: Die hohe Dichte von Autos, Zwei- und Dreirädern sowie Fußgängern und das damit einhergehende Verkehrsverhalten in chinesischen Städten stellen andere Anforderungen an automatisierte Fahrfunktionen als in Europa oder den USA, erläutert Schlageter. Hinzu kommen Verkehrsschilder mit chinesischen Schriftzeichen und Spurmarkierungen, die in China eine andere oder gar mehrfache Bedeutung haben können. So sind beispielsweise kurze weiße Linien, die weltweit als Zebrastreifen bekannt sind, auch auf Autobahnen zu finden.?Dort markieren sie allerdings keinen Fußgängerübergang, sondern den Mindestabstand zwischen den Fahrzeugen. Dies muss die Sensorik erkennen und richtig interpretieren, ebenso wie Tempolimits, die sich von Fahrspur zu Fahrspur unterscheiden können. Eine weitere Herausforderung: Parkplätze haben die unterschiedlichsten Formen und sind oft voller Hindernisse, die für Sensoren schwer zu erkennen sind. Und dann sind da noch die Chinesen: Sie fahren auf der Autobahn dichter auf, wechseln in der Stadt schneller die Spur und geben sich zumindest für europäische Augen insgesamt ein wenig unkonventionell.
 
Das alles bringt die Assistenzsysteme an die Grenzen ihrer Auffassungsgabe und bisweilen zum Ausstieg. Während der Fahrer dann mit den Zähnen knirscht, beginnt sein Sozius zu strahlen. Denn jedes Mal in so einer Situation zeichnet Schlageter die entsprechende Sequenz auf loggt die Daten und legt zur besseren Orientierung noch ein Video mit dem Ausblick des Fahrers darüber: Welcher Sensor hat was gesehen, warum wurde welche Entscheidung gefällt oder was hätte für eine bessere Entscheidung noch alles erkannt werden müssen? Das sind die Fragen, die er und seine Kollegen nach der Testfahrt Situation für Situation am stark angereicherten Roadmovie durchgehen. Denn auch wenn die Assistenzsysteme zunehmend mit künstlicher Assistenz ausgestattet werden, kann man sie nach seiner Ansicht nach nicht alleine lernen lassen. Zu groß ist die Gefahr, dass sich ein System sonst in eine Sackgasse lernt, erläutert Schlageter: "Genau wie eine Suchmaschine im Internet die Spreu vom Weizen trennt, müssen wir die vorhandenen Informationen etwas selektieren."
 
Und Informationen gibt es reichlich. Mehr als ein Dutzend Sensoren und Kameras sind an Bord der neuen S-Klasse - da kommen schnell mal ein paar Terrabyte zusammen. Normalerweise gehen diese Daten direkt über einen Satelliten nach Stuttgart und während Schlageter noch fährt, können seine Kollegen damit schon arbeiten. Doch hier in China mag das partout nicht gelingen und die Analyse muss warten, bis jemand wieder einen Koffer voller Festplatten mit nach Hause geflogen hat.
 
Die paar Runden in Shanghai, die Fahrten in Melbourne, Kapstadt und Stuttgart sind aber nicht alles. In den vergangenen sieben Jahren hat Mercedes allein zur Feldabsicherung von Fahrerassistenzsystemen mit 175 Erprobungsträgern rund 5.100 Testfahrten weltweit durchgeführt: Auf rund 9,5 Millionen Kilometern in Europa, den USA, China, Australien und Südafrika wurden dabei die Leistungsfähigkeit der Fahrassistenzsysteme bewertet und für ihre kontinuierliche Weiterentwicklung insbesondere in Realverkehrs-Situationen mehr?als 1,2 Millionen Messungen durchgeführt.
 
Zwar ist Schlageter dabei reichlich herumgekommen. Doch mit jedem Kilometer, den er auf der Welt fährt, und mit jedem Ereignis, dass er aufzeichnet, werden die Chancen für kommende Dienstreisen wieder etwas kleiner. Denn natürlich liegen alle Szenarien auf einem Server und können jederzeit wieder abgerufen werden und für Schlageter gilt die Devise, je mehr er von der echten Welt weiß, desto besser kann er die Systeme darauf anlernen.
 
,,So füllen wir eine Art Werkzeugkasten für die Entwicklung künftiger Funktionen", erläutert Schlageter. Probleme, die sie heute im Stadtverkehr von Shanghai erkennen, können sie in der nächsten Schleife dann vielleicht auch in Sindelfingen simulieren. Nicht dass Schlageter irgendwann die Lust am Reisen ausgehen würde. Doch zumindest der Autopilot bekommt auf dem Weg zum Weltbürger dann womöglich erst einmal Stuben-Arrest.

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