Motorrad

Fahrbericht: Yamaha Ténéré 700 - Kann weniger mehr sein?

  • In MOTORRAD
  • 21. Mai 2019, 15:42 Uhr
  • Ulf Böhringer/SP-X

Die neue Yamaha Ténéré 700 verzichtet auf sämtliche üblichen Hightech-Features und gibt sich als pures Fahrgerät für Vergnügen auf Asphalt, aber auch Reisen über Stock und Stein.

Es ist ein mittlerweile ungewohntes Gefühl, sich mit einer lediglich 204 Kilogramm leichten Reiseenduro unwegsame Bereiche Spaniens untertan zu machen; die meisten der heute am Markt befindlichen Sports-Adventure-Bikes wiegen einen halben oder sogar ganzen Zentner mehr. Zudem leistet der wassergekühlte Zweizylinder-Reihenmotor der neuen Yamaha Ténéré 700 nicht über 100 PS, sondern gerade mal 54 kW/73 PS, und es gibt weder elektronisch wählbare Fahrmodi noch eine Traktionskontrolle, keinen Joystick und keinen Quickshifter, kein spezielles Offroad-ABS und auch sonst keinerlei elektronische Helferlein, von einer Smartphone-Einbindung mittels Connectivity ganz zu schweigen. Nach 500 abwechslungsreichen Kilometern über Pisten, Knüppelwege, Holperasphalt, Kurvenwetzen auf Fünfsterne-Asphalt und ruhigem Dahingleiten in Richtung auf das gefühlte Ende der Welt stellt sich nun die Frage: Fehlt was? Die Antwort: Nicht wirklich.

36 Jahre ist es her, dass die japanische Motorradmarke Yamaha damit begann, ihre bereits Ende der 1970er Jahre bei der frühen Rallye Paris-Dakar eingefahrenen Siege im Serienmotorradbau zu vermarkten. Die Ténéré von 1983, von einem 600 Kubikzentimeter-Einzylindermotor angetrieben, entwickelte sich in den 1980er und frühen 1990er Jahren zu einer Macht im damals noch kleinen Abenteuerbike-Segment. Einfach zu handhaben war sie, zuverlässig und anspruchslos. Doch wie auch Honda mit seiner erfolgreichen Africa Twin schaffte es Yamaha nicht, die Ténéré-DNA so zu kultivieren, dass sie über die Jahrzehnte zur ,,japanischen GS" hätte reifen können.

Nach gefühlt mehr als zwei Jahrzehnten Abstinenz vom einst dominierten Marktsegment begann man 2015 im europäischen Yamaha-Entwicklungszentrum in Italien damit, eine neue ,,echte" Ténéré auf die Räder zu stellen. Das Herz dafür, der exzellente Zweizylinder-Reihenmotor der erfolgreichen MT-07, war vorhanden, doch alles andere musste neu werden. Mehr als vier Jahre vergingen unter Einbindung der japanischen Entwickler, bis es nun eine neue Ténéré 700 gibt.

Anders als BMW, Honda, KTM und Triumph geht Yamaha das Wagnis ein, sich vom Hightech-Trend in der Reiseenduro-Szene abzukoppeln. ,,Zugunsten von weniger Gewicht, einem niedrigeren Preis und leichter Handhabung", sagen die Verantwortlichen. Sie bieten dennoch allerhand: Mindestens 24 Zentimeter Bodenfreiheit, ausgezeichnet abgestimmte Feder- und Dämpfungselemente, eine ausgewogene Sitzposition sowie eine ordentliche Reichweite von an die 350 Kilometer. Nicht ganz konfliktfrei ist die Sitzhöhe von 87,5 Zentimetern; 1,80 Meter groß sollte man als Fahrer idealerweise schon sein. Zwar gibt es einen Tieferlegungs-Kit, der vier Zentimeter einsparen soll, aber er beeinträchtigt die Bodenfreiheit. Wie sehr, konnten wir leider noch nicht erfahren. Nicht ausgeschlossen, dass Yamaha in diesem Punkt gegenüber anderen Marken wertvolle Punkte und damit Stückzahlen liegen lässt. Vielleicht auch beim Tankvolumen, denn 16 Liter klingen nicht nach großem Aktionsradius. Der Verbrauchs-Normwert liegt jedoch bei bescheidenen 4,3 l/100 km - und er scheint erreichbar zu sein, sofern man nicht im Rallye-Stil angast.

In Fahrt gibt sich die Siebenhunderter souverän: Das Fahrwerk mit 21 Zoll-Vorder- und 18 Zoll-Hinterrad glänzt mit Präzision und großem Schluckvermögen, ohne schaukelig zu sein. Dazu tragen nicht zuletzt die sinnvoll gewählten Reifenformate wie auch der Reifentyp bei: Der Pirelli Scorpion Rally STR glänzt auf Asphalt und gefällt auch offroad gut. Der gegenüber der MT-07 in Details überarbeitete Motor, in seiner Klasse ohnehin ein Siegertyp, kann sich dank reduzierter Endübersetzung und geringfügigen Modifikationen bestens in Szene setzen, zieht bullig und dreht bei Bedarf willig. Auch die Ergonomie - sitzend wie stehend - überzeugt. Arrangieren muss man sich im farbigen TFT-Zeitalter mit einem LC-Display im Cockpit, das sauber gegliedert, weitgehend vollständig und ordentlich ablesbar ist. Immerhin hat Yamaha dem Cockpit einen Select-Schalter spendiert, mit dessen Hilfe sich wichtige Informationen vom Lenker aus abrufen lassen.

Viel Wert haben die Entwickler aufs Drumherum gelegt: Es gibt ein sehr stabiles, sauber passendes Gepäckträgersystem mit exakt zu fixierenden Alu-Boxen, zudem diverses anderes Zubehör, das lange Reisen in unwirtliche Gegenden dieser Erde angenehmer machen kann. Serienmäßig im Lieferumfang geboten sind lange Wartungsintervalle, gute Zugänglichkeit für kleine Servicetätigkeiten wie beispielsweise das Reinigen des Luftfilters und allerlei mehr, so dass die Yamaha Ténéré 700 ausgesprochen praxistauglich wirkt. 9.600 Euro beträgt der Listenpreis. Günstig ist das, aber nicht billig. Denn der Fahrer muss die Traktionskontrolle im rechten Handgelenk haben und das Kurven-ABS im Kopf. Und er muss wissen, oder herausfinden, wie er gegebenenfalls die Federelemente (mechanisch) einzustellen hat. Dass es kein spezielles Offroad-ABS mit Blockierkontrolle fürs Vorderrad und ABS-freiem Hinterrad gibt, hat uns nicht gestört; die ABS-Abstimmung zeigte sich so praxisgerecht, dass wir offroad nie auf den Gedanken kamen, das System zu deaktivieren, was aber möglich ist. Die Bremsanlage selbst überzeugt voll und ganz.

Es ist ein mutiger Ansatz von Yamaha, die neue Ténéré 700 technisch so reduziert aufzusetzen, wo sich doch die Wettbewerber geradezu mit Hightech-Komponenten überbieten. Der 500-Kilometer-Test hat gezeigt, dass das Ergebnis ein weitgehend ,,rundes" ist. Schade nur, dass die Lieferfähigkeit von Yamaha dieses Jahr noch stark eingeschränkt ist; erst nächstes Frühjahr wird die volle Verfügbarkeit gegeben sein. Schnellstarter können jedoch 300 Euro sparen, wenn sie noch vor dem 31. Juli einen Kaufvertrag unterzeichnen. Nur dann besteht die (theoretische) Chance, noch heuer auf eine Ténéré zu steigen.



Technische Daten - Yamaha Ténéré 700

Motor: Flüssigkeitsgekühlter Zweizylinder-Reihenmotor, 8 Ventile, DOHC, 689 ccm Hubraum, 54 kW/73 PS bei 9.000 U/min, 68 Nm bei 6.500 U/min; Einspritzung, 6 Gänge, Kettenantrieb

Fahrwerk: Stahl-Brückenrahmen; vorne USD-Telegabel ø 43 mm (voll einstellbar), 21 cm Federweg; Stahl-Zweiarmschwinge, Zentralfederbein (voll einstellbar), 20 cm Federweg; Aluminiumfelgen mit Stahlspeichen; Schlauchreifen Pirelli Scorpion Rally STR 90/90-21 (vorne) und 150/70-18 (hinten). 28,2 cm Doppelscheibenbremse vorne, 24,5 cm Einscheibenbremse hinten

Assistenzsysteme: Zweikreis-ABS

Maße und Gewichte: Radstand 1,59 m, Sitzhöhe 87,5 cm, Bodenfreiheit 24 cm, Gewicht fahrfertig 204 kg, Zuladung 190 kg; Tankinhalt 16 Liter (davon: 4,1 l Reserve)

Fahrleistungen: Vmax: 186 km/h, Normverbrauch: 4,3 l/100 km

Preis: 9.600 Euro

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