Unternehmen & Märkte

Mitfahrt im Toyota Yaris WRC: Ein wilder Tanz nach unbekannter Melodie

Miikka Anttila ist ein ausgezeichneter Autofahrer. Deshalb ist der 46-jährige Finne 1999 in den Rallyesport eingestiegen. Seine Chefs sind allerdings der Meinung, dass er noch besser vorlesen kann als Auto fahren. Deshalb wurde er Co-Pilot. Da Anttila einen freien Tag hat, steigen wir einmal als Co-Driver zu Jari-Matti Latvala in den Toyota Yaris WRC.

Der 34-jährige Latvala hat mit seinem dritten Platz bei der Rallye Finnland gerade wichtige Punkte für sein Team in der Konstrukteurs-Weltmeisterschaft geholt. In der Fahrwertung liegt er aktuell noch vor dem neunmaligen Champion Sebastian Loeb. Allerdings haben ihn in der Vergangenheit zahlreiche Aus- und Unfälle immer wieder davon abgehalten, öfter nach ganz oben aufs Treppchen zu fahren. 2017 gewann er die Rallye Schweden, ein Jahr später die Rallye Australien.

Bis einige Franzosen die betoniert geglaubte Hierarchie in Unordnung brachten, war der internationale Rallyesport fest in der Hand der Skandinavier. Bei der Finnland-Rallye wird das besonders deutlich, wo nur neunmal in der Geschichte ihrer Austragung ein Nicht-Finne gewinnen konnte. Zwei Siege davon, der des vergangenen und dieses Jahres, gehen auf das Konto des Esten Ott Tänak, dem Toyota-Team-Kameraden von Jari-Matti Latvala.

Die Co-Piloten stehen meist im Schatten, obwohl sie mindestens 50 Prozent Anteil an den Erfolgen haben. Ohne sie wären die Herren am Lenkrad kaum so schnell unterwegs. Unverzichtbarer Bestandteil der Profi-Ausstattung an Bord ist das ,,Gebetbuch", mache nennen es auch ,,Aufschrieb". Es sind Notizen, die der Fahrer seinem Beifahrer während der ersten Streckenabfahrt diktiert und sie enthalten Kenndaten über Merkmale des Weges wie Verlauf und Länge von Streckenabschnitten, Kurvenradien und -verlauf, Sprungkuppen und Kompressionen, wenn etwa ein Tal zu durchfahren ist.

Die Beschaffenheit des Belages - in Finnland meistens Schotter - und seine Wechsel werden mitgeteilt, Licht- und Schattenverhältnisse ebenso. Zusätzlich erfasst der Aufschrieb die Fahrdaten, beispielsweise mögliche Geschwindigkeiten, Schaltvorgänge, Bremswege und den Schwierigkeitsgrad einer bestimmten Stelle. Um beim Ansagen der Fakten mit dem Tempo des Autos mithalten zu können, sind die Ereignisse auf der Strecke in einsilbige Wörter und Zahlen codiert, per Bordfunk gelangt die Information vom Mikrofon des Beifahrers in den Helm seines Kompagnons. So kann der Fahrer auf dem Gas bleiben, obwohl er den weiteren Verlauf einer Kurve nicht einsehen oder nicht erkennen kann, wie es nach der voraus liegenden Kuppe weitergeht.

Unser Yaris ist ein Rennwagen des Vorjahres, also jene Ausbaustufe, mit der Toyota den Hersteller-Titel gewann. Er hat einen 1,6-Liter-Turbomotor und Allradantrieb, leistet um die 380 PS und wiegt knapp 1200 Kilogramm. Technisch wären noch mehr Pferdestärken drin, doch ein Luftmengenbegrenzer, der so genannte Restrictor, hindert den Motor am Atmen. Um mit 180 Stundenkilometer durch den Wald zu preschen, reicht die Leistung aber allemal.

Rennoverall und Helm sind auch bei ,,Taxi"-Fahrten wie dieser Pflicht. Die Kombi sitzt komfortabel genug, eng ist nur die Sitzschale, in der mich ein Helfer mit Sechs-Punkt-Gurt fixiert. Wie präzise die beiden Rennpiloten aufeinander eingespielt sein müssen, merke ich sofort, als die Tür geschlossen wird. Die Piste kann ich nämlich gar nicht richtig sehen. Mein Sitz ist etwa 15 Zentimeter niedriger eingebaut als der des Fahrers. Das senkt den Schwerpunkt des Gesamtfahrzeugs und verbessert so Straßenlage und Kurvendynamik. Damit, dass es an Dynamik in den nächsten Minuten fehlen könnte, rechne ich eigentlich nicht.

Mit an Bord ist noch Hans, eigentlich H.A.N.S., was in der Langversion ,,Head and Neck Support" heißt. Die Vorrichtung verbindet die Helme der Insassen mit der Sitzstruktur und soll den Kopf aufrecht halten. Nicht nur beim unbeabsichtigten Verlassen der Piste, auch bei den brachialen Kurven- und Flugmanövern kann ein Mehrfaches ihres eigenen Körpergewichts auf die Insassen einwirken. Die in ,,g" gemessenen Beschleunigungs- oder Verzögerungswerte sind besonders für die Nackenmuskulatur gefährlich. Nimmt man für die Einheit aus Kopf und Helm ein Gewicht von sieben Kilogramm an, wirken bei 2,5 g nahezu 17 Kilo auf diese Muskelpartie.

Unsere Strecke ist eine Übungspiste nahe eines Gehöfts eine halbe Stunde nördlich von Jyväskylä. Dorthin pilgern jedes Jahr im August Zigtausende von Motorsportfans mit Campingstühlen und Getränken in die Wälder, um spektakuläre Drifts und Sprungmanöver zu beobachten. Daumen hoch, Latvala latscht aufs Gaspedal, wie vom Gummiband gezogen stürmt der Yaris los. Keine 100 Meter weiter hebt der Wagen das erste Mal ab - um erstaunlich weich zu landen. Die Federbeine sind rund einen Meter lang, keine Ahnung, wie sie in das kleine Auto passen. Der Weitsprungrekord bei der Rallye Finnland war nicht in Gefahr. Der steht auf 72 Meter - aufgestellt von Markko Märtin im Jahr 1975. Das Auto überschlug sich anschließend viermal, weil der Beifahrer beim Streckevorlesen einen Fehler gemacht hatte. Bin ich froh, dass ich keinen Aufschrieb in der Hand habe. Es wäre sowieso ziemlich schwierig gewesen, bei der Rüttelei irgendwelche Zeichen zu entziffern und im Stakkato-Takt anzusagen.

Jari-Matti Latvala steht in dem Ruf, ,,digital" zu fahren, seine Standardwerte sind demnach ,,Null" und ,,Eins", entsprechend ,,full throttle" (Vollgas) oder ,,full brake" (Vollbremsung). Anderes scheint auch nicht sinnvoll, wenn über Sieg und Platz Sekundenbruchteile entscheiden. Die Kunst besteht darin, im exakt richtigen Moment zwischen den beiden Pedalen hin und her zu wechseln. Drittes Werkzeug ist die Handbremse. Latvala führt ihre Wirkung vor, als ein Streckenposten das nahe Ende des Übungsparcours signalisiert. Kurzes Einlenken, Hinterräder zum Blockieren bringen, schon ist der 180-Grad-Turn auf der Stelle Geschichte.

Mein Chauffeur ist ein freundlicher Mann. Ob meine Körperfülle die Performance unseres Rennwagens eventuell negativ beeinflusst, behält er für sich. Allerdings verrät er, dass die Teams sich gut überlegen, ob sie statt einem Ersatzrad für alle Fälle ein zweites auf die Etappe mitnehmen sollten. ,,Die 25 Kilo Mehrgewicht können zwei Zehntel pro Kilometer kosten", sagt Latvala. Das wären bei einer 20 Kilometer langen Sonderprüfung vier Sekunden. Bei der Rallye Finnland lagen am Ende nach mehr als 1370 Kilometern der Zweit- und der Drittplatzierte 7,6 Sekunden auseinander.

Der Motor brüllt, das kleine Display im Lenkradkranz zeigt mehr als 100 km/h. Nur selten weist die Frontschürze in Fahrtrichtung, getreu dem Walter Röhrl zugeschriebenen Bonmot ,,nur quer is' ma' wer". Zweifellos kommt man so mit weniger Tempoverlust durch die Kehre als auf die im öffentlichen Straßenverkehr übliche Weise. Während ich angestrengt versuche, entspannt zu bleiben, hat Latvala offenkundig Freude an dem Ausflug. Er lässt den Yaris tanzen wie nach einer Melodie, die nur er hört.

Vielleicht wäre sie mir auch noch zu Ohren gekommen, wenn die Fahrt länger gedauert hätte. Mühsam schäle ich mich aus dem Überrollkäfig. Jetzt bitte mal ganz ehrlich, wie viel von dem, was beim Rennen gegen die Uhr von ihm verlangt wird, hat er eben gezeigt? ,,Könnten vielleicht 90 Prozent gewesen sein", sagt Jari-Matti Latvala milde und ich vermute, dass er wieder freundlich sein will und etwas übertreibt. ,,Da hat man noch Zeit, auf Unvorhersehbares zu reagieren. Ich wollte ja, dass Du sicher nach Hause kommst". (ampnet/afb)

STARTSEITE