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Panorama: Mercedes 600er Pullman - Lindwurm im Smoking

  • In AUTO
  • 25. September 2020, 13:00 Uhr
  • Benjamin Bessinger/SP-X

Fast 20 Jahre war der 600er die Krönung im Mercedes-Programm. Wer es besonders luxuriös wollte, der bestellte für den Gegenwert eines kleinen Eigenheimes den gestreckten Pullman. Dagegen sieht selbst die neue S-Klasse ziemlich alt aus.  

Von wegen ,,der Reiz des Neuen". Natürlich richten sich auch auf dem Mercedes-Testgelände im Innendingen alle Augen nach der neuen S-Klasse, die hier noch stark verklebt und entsprechend getarnt ihre letzten Runden dreht. Denn es ist Anfang September, die Weltpremiere der Luxuslimousine, die sich selbstbewusst als bestes Auto der Welt feiert, wird erst in ein paar Tagen gefeiert, und jeder hier auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz am Rande der Schwäbischen Alb weiß, dass an ihrem Erfolg das Wohl und Wehe der ganzen Firma hängt. Doch mit einem Mal wird das Flaggschiff zum Nebendarsteller und buchstäblich in den Schatten gestellt von einem Klassiker, der alle Aufmerksamkeit auf sich vereint. Denn auf dem großen Landstraßenoval läuft sich majestätisch ein Mercedes warm, der mehr Luxus, Status und Erhabenheit ausstrahlt, als es die neue S-Klasse je tun wird, selbst wenn es das Flaggschiff bald auch wieder als Maybach geben wird: Vorhang auf und Straße frei für den 600er Pullmann.

Wo sich Mercedes heute um modernen Luxus müht und jungen Millionären genauso gefallen will wie dem alten Geld, steht er für eine Ära, in der eine konservative Welthaltung noch keine Schaden war und das Vermögen noch mit Arbeit gemacht wurde statt mit Aktien-Spekulationen. Schon die normale Limousine war ein Statussymbol, wie es sonst kaum eines auf vier Rädern gab. Doch hatten die Schwaben mit dem Pullman noch eine Steigerung parat: So lang wie ein Kleinlaster, so luxuriös wie die Präsidentensuite und so teuer wie ein Reihenhäuschen war er Regierungsbank auf Rädern, Prunkwagen für Kaiser und Könige und Schmuckstück in der Garage unzähliger Potentaten rund um den Globus.  

Die Geschichte der Baureihe beginnt auf der Frankfurter Automobilausstellung im Herbst 1963 mit der Premiere eines neuen Prunkwagens, der ,,alles in den Schatten stellen soll, was in der Klasse hochkarätiger Limousinen bisher für ambitionierte Kunden in aller Welt zu haben ist", heißt es in einer Firmenchronik. Geplant als ,,Groß-Reise- und Repräsentationswagen", lässt der Luxusliner schon bei der Messe alle anderen Autos alt und ärmlich aussehen. Und rund um den Globus melden sich Regierungen und Königshäuser, Superreiche, Sultane und Showstars, Despoten und Potentaten mit ihren Bestellungen.  

Mit dem normalen 600er sind allerdings nicht alle zufrieden. Statt der 56.500 Mark für die immerhin schon 5,45 Meter lange Standardversion überweisen sie den Gegenwert eines Einfamilienhauses und bestellen für 63.500 Mark lieber gleich den Pullman, den Mercedes noch einmal um 80 Zentimeter gestreckt hat. Das schafft Raum für eine zweite Sitzreihe mit oder entgegen der Fahrtrichtung, eine Trennwand aus Glas und auf Wunsch zwei zusätzliche Türen. Und wem selbst das noch nicht genug ist, dem liefern die Schwaben auch ein Landaulet, das in fast 100 Tagen in Handarbeit zu einem der größten Cabrios aller Zeiten wird. Stilvoller kann man eine Parade nicht abnehmen.  

Unter der Haube steckt bei allen drei Varianten ein V8 mit gewaltigen 6,3 Litern Hubraum, dessen Leistungsdaten seinerzeit unvergleichbar waren. Zwar ist heute jede bessere C-Klasse stärker. Doch 1963 reichten 250 PS und 510 Nm für die Aufnahme in den automobilen Adelsstand allemal. Und mit etwas mehr als 200 km/h konnte der 600er selbst den meisten Sportwagen mühelos davonfahren. Lange vor Einführung der Senator-Karte werden so auch größte Distanzen zu kleinen Hüpfern  

Sieht man einmal vom schweren Seegang in engen Kurven ab, gibt es wirklich nichts, was das Wohlbefinden der Passagiere in einer der raren Staatslimousinen trüben könnte. Man sinkt in tiefe Polster aus einer Zeit, als Flockvelours noch etwas Besonderes war, genießt mehr Beinfreiheit als unter dem Präsidentenschreibtisch, lässt sich von den eigens für die Fotografen montierten, orangen Deckenlampen die Blässe aus dem Gesicht leuchten und kann den Atem der Geschichte förmlich riechen. Wer wohl schon alles auf dieser rollenden Regierungsbank gesessen hat, wer im Barfach die beiden schlichten Thermoskannen geöffnet und wer zu einem der drei Telefone gegriffen hat, die groß und klobig auf dem Mitteltunnel thronen, weil an Handys damals noch nicht im Traum zu denken war? All diese Fragen gehen einem durch den Kopf, während der Pullman wie ein schwebender Teppich über die Landstraßen gleitet, einem Ozeanriesen gleich vor großem Publikum in der Parkbucht einläuft und sich der Passagier im Fond fühlt wie ein König beim Kurzbesuch. 


Für dieses königliche Gefühl haben die Ingenieure damals keine Kosten und Mühen gescheut. ,,Der Pullman war nicht mehr und nicht weniger als das beste Auto seiner Zeit", sagt ein pensionierter Mechaniker, der den 600er damals als Flying Doctor bei Regierungseinsätzen begleitet hat. Er strahlt noch heute voller Stolz: ,,Sicherer, moderner und komfortabler war damals keine andere Limousine". Für Kanzler und Könige war das ein Segen. Aber für die Mechaniker konnte das Flaggschiff bisweilen auch zum Fluch werden.  

Vor allem die neuartige Komforthydraulik machte ihnen zu schaffen. Weil Elektromotoren damals noch so groß waren wie Kokosnüsse, wurden viele Antriebe im 600er durch Hochdruckleitungen ersetzt. Nicht nur Stoßdämpfer und Bremsen, sondern auch Fenster und Sitzverstellung, die Trennscheibe und die neue Zuziehautomatik für die Türen wurden auf diese Weise bedient. Statt irgendwo einen Motor surren zu hören, macht es im Pullman deshalb einfach nur leise zisch, und schon gleiten die Fenster auf.  

Gerade diese Hydraulik ist es auch, wegen der die Mercedes-Spezialisten bis heute um die Welt jetten und in irgendeinem Sultanat, Königreich oder Scheichtum zum Schraubenschlüssel greifen. Denn Ersatzteile für den 600er sind rar und teuer und oft genug müssen sie deshalb von Hand nachgebaut werden. Allein die Schalterbatterie in der Tür kostet dann schnell 5.000 Euro, und für eine Restaurierung stellt das werkseigene Classic Center schnell mal 500.000 Euro und mehr in Rechnung- die 80- bis 130.000 Euro für das Basisfahrzeug nicht mitgerechnet.  

Doch wenn der Wagen so gut in Schuss ist wie der Luxusliner aus dem Museumsfuhrpark in Stuttgart, dann ist jede Ausfahrt noch immer ein königliches Vergnügen. Zwar braucht der Motor ein wenig Zuspruch. Doch sobald der Achtzylinder läuft und sein sonores Brummen über die Alp hallt, fallen die Jahre von der Limousine ab wie die wenigen Staubkörner, die auf dem tiefschwarzen Lack haften geblieben sind.  

In den ersten Jahren nach der Premiere des 600ers stehen die Kunden Schlange und das Geschäft läuft wie geschmiert. Doch schon bald ist die echte oder vermeidliche Weltelite ausgestattet, der Ersatzbedarf ist gering und die Produktion stellt auf den Kriechgang um. Viel Geld hat Mercedes mit dem Auto deshalb wahrscheinlich nicht verdient, heißt es in den Chroniken. Doch Ruhm und Ehre war den Entwicklern sicher. Und obwohl es mit den ersten Generationen der S-Klasse längst modernere Fahrzeuge gab, haben die Schwaben dem 600er die Treue gehalten und die Produktion erst 1981 eingestellt - nach exakt 2.677 Exemplaren, von denen 428 als Pullman und 59 als Landaulet ausgeliefert wurden.  

Und so ganz vergessen haben sie die Idee offenbar nie. Denn obwohl das Maybach-Experiment zur Jahrtausendwendet gescheitert ist und für den im Geist des Pullmann gestreckten 62er nur eine Fußnote in der Mercedes-Chronik blieb, gab es vor gut zehn Jahren wieder eine S-Klasse in XXL, die den Beinamen ,,Pullmann" tragen durfte. Und auch wenn jetzt die neue S-Klasse kommt, geht der Luxusliner wieder in die Länge. Allerdings übt sich Mercedes dabei beinahe in Bescheidenheit und belässt es mit zwei Handbreit mehr Radstand für die neue Maybach-Variante. Dass die ersten Prototypen davon in Immendingen längst unterwegs sind, ändert an der Aufmerksamkeit für den 600er deshalb wenig. Denn für diesen Mercedes gibt es nur einen Platz: Im Mittelpunkt.  

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