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100 Jahre Opel-Rennbahn - Die vergessene Strecke

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  • 19. Oktober 2020, 09:38 Uhr
  • Michael Lennartz/SP-X

Ein 1,5 Kilometer langes Oval im Süden von Rüsselsheim galt einmal als die schnellste Rennstrecke Europas: die Opel-Rennbahn. Ende Oktober wäre sie 100 Jahre alt geworden. Ihre Blütezeit dauerte aber kaum mehr als eine Dekade, und heute kennt sie selbst in der näheren Umgebung kaum noch einer.

Wer heute von den klassischen deutschen Rennstrecken spricht, denkt an den Nürburgring oder an Hockenheim. Vielleicht auch an die Berliner Avus. Eine der bedeutendsten Rennanlagen unseres Landes ist dagegen völlig aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden: die vor 100 Jahren am 24. Oktober 1920 eröffnete Rüsselsheimer Opel-Rennbahn.

Dabei handelte es sich bei diesem Motodrom südlich Rüsselsheims um eine Anlage, die einstmals ihresgleichen suchte - eine Rennstrecke, die Anfang der 20er-Jahre den Ruf als schnellster Kurs in ganz Europa genoss. Hier fuhren die internationalen Asse ihrer Zeit gegeneinander.

Die Bedeutung der Opel-Rennbahn für die Entwicklung des deutschen Rennsports ist nicht unerheblich, zumal es sich um die älteste Anlage ihrer Art auf deutschem Boden handelte. Auf ihr fand schon ein Jahr lang regelmäßiger Rennbetrieb statt, als die »Automobil-Verkehrs- und Übungsstraße« im Berliner Grunewald, die Avus, 1921 eingeweiht wurde; das Eröffnungsrennen auf dem Nürburgring ließ gar noch sieben Jahre auf sich warten, und der Ring bei Hockenheim war erst Anfang der dreißiger Jahre fertig.

Die Bahn entstand am Beginn einer Epoche der rasanten technischen Entwicklung, die auch und gerade vor dem Automobil nicht Halt machte. Dies führte zu einer unverhofften Popularität, die sich für die Menschen rund um Rüsselsheim auch in den Massenanstürmen an den sommerlichen Wochenenden äußerte. Tausende kamen zu Fuß, per Rad (Tret- und Motorrad) und im Auto. Sonderzüge spien Menschenmassen aus. Das Objekt der Begierde lag wenige Kilometer südlich von Rüsselsheim, das damals rund 8.000 Einwohner zählte, inmitten weiter Felder nahe dem Schönauer Hof. »Schön gelegen« eben, wie die zeitgenössische Literatur erwähnt. Über baumgesäumte Chausseen und staubige Landsträßchen führte der Weg auf die gepflasterte, schattige Kastanienallee unmittelbar neben der Rennbahn. Reklametafeln und Flaggenschmuck empfingen die Spaziergänger, hin und wieder spielte die Werkskapelle von Opel auf.

Heute fehlt der Anfahrt diese Romantik. Man verlässt mit dem Auto die Bundesautobahn A 60 zwischen Rüsselsheimer Dreieck und Mainspitz-Dreieck an der Ausfahrt Rüsselsheim Süd. Auf der B 519 geht es in südliche Richtung weiter. Nach nicht einmal einem Kilometer liegt rechterhand ein Wasserwerk zur Versorgung der Stadt Mainz. Genau gegenüber, auf der anderen Straßenseite, befindet sich die Opel-Rennbahn. Das eigentliche Oval ist zwar noch bruchstückhaft erkennbar. Buschwerk und Bäume haben die Anlage aber längst überwuchert. Der Beton ist rissig und stellenweise aufgeplatzt. Es bedarf schon einiger Fantasie, um sich den Anblick vorstellen zu können, den die Opel-Bahn ihren Besuchern vor fast 100 Jahren geboten haben muss.

Die westliche Gerade des Betonovals, auf der heute die Trasse der B 519 liegt, verlief ziemlich genau in Nord-Südrichtung. Die Kurve an ihrem nördlichen Ende war enger gezogen als das Gegenstück im Süden, die Gegengerade beschrieb einen sanften Bogen. Das Oval ergab eine 1,5 Kilometer lange Strecke mit einer Bahnbreite von 12 Metern. Die Betondecke der Fahrbahn war 20 Zentimeter dick, und um 32 Grad überhöhte Kurven erlaubten Geschwindigkeiten bis zu 140 km/h. Vergleichbar schnelle Rennstrecken gab es anfangs der zwanziger Jahre allenfalls noch in England und den USA. Maximal 50.000 Zuschauer fanden auf den Holztribünen an der Start- und Zielgeraden sowie im Innern des Ovals Platz.

Der ,,Nudeltopf" diente nicht nur als Rennstrecke, sondern auch als Test- und Einfahrgelände für das Opel-Werk im nahen Rüsselsheim. Mitten im Ersten Weltkrieg wäre der Luxus, den der Bau einer Rennbahn darstellte, vollkommen undenkbar gewesen. Der Rundkurs wurde denn auch in erster Linie als Prüfstrecke konzipiert, weil sich die bereits vorhandene Anlage auf dem beengten Firmengelände als unzulänglich erwies.

Weil die Opel-Werksfahrer daher zu Testzwecken auf öffentliche Straßen auswichen, gab es prompt Ärger, traten auch damals schon Bürgerinitiativen gegen den ,,unerträglichen Lärm und die Raserei" auf den Plan. Schließlich ließ Großherzog Ernst Ludwig von Hessen, der später die Brüder Wilhelm, Heinrich und Carl Opel adelte, 1915 den Behördenerlass veröffentlichen: ,,Die hessische Regierung hat den Opelwerken in Rüsselsheim aufgegeben, sich zum Ausprobieren der beinahe versandfertigen Automobile eine Rennbahn anzulegen, da die Verkehrswege zu sehr ruiniert und das Publikum zu sehr gefährdet und belästigt würde, als dass man länger die Raserei auf den Straßen gestatten könne."

Zwei Jahre später begann der Bau, 2019 wurde die ,,Versuchs- und Rennbahn", wie sie offiziell hieß, fertiggestellt. Und am 24. Oktober 1920 pilgerten 10.000 Besucher zur Einweihung der Strecke. Für Nervenkitzel war bei der motorsportlichen Premiere gesorgt: Schon an diesem Tag sollen Spitzengeschwindigkeiten bis 140 km/h erreicht worden sein.

Fritz von Opel, ein Enkel des Firmengründers und schon damals rennsport- und geschwindigkeitsbesessen gehörte ebenso wie ,,Altmeister" Carl Jörns zu den erfolgreichsten Fahrern dieser Zeit. Im Juli 1922 machte übrigens auch ein gewisser Rudolf Caracciola auf sich aufmerksam: Der damals erst 21-Jährige gewann auf der Opel-Bahn ein »Anerkennungsrennen«. Auch der spätere Silberpfeil-Pilot Hermann Lang kam nach Rüsselsheim.

Motorrad- und Fahrradrennen, vor allem die sogenannten Steher-Rennen hinter Schrittmachern, gehören ebenfalls zum regelmäßigen Programm. Und natürlich nutzte Opel die Rennbahn auch zu außergewöhnlichen PR-Aktionen wie der Präsentation des Modells 4/1 2 PS, wegen seiner grasgrünen Einheitsfarbe dem Volksmund besser bekannt als »Laubfrosch«.

1927 offenbaren sich allerdings bereits erste Anzeichen dafür, dass die Bahn in die Jahre kommt. Zwar wird mit 145 km/h nochmals ein neuer Rundenrekord für Automobile aufgestellt, aber die Motorrad-Piloten haben schon Probleme. Im Mai des gleichen Jahres wird nämlich konstatiert, dass die bestehende Bestzeit von 1925 - damals fuhr Ernst Zündorf 137,5 km/h schnell - nicht mehr zu überbieten sei wegen der Beschaffenheit der Strecke. Die große Zementbahn war zu wellig geworden.

Nach 1928 wird es verdächtig ruhig um die Rennstrecke. Kaum noch Rennsportaktivitäten. 1930 ist in den Annalen zwar noch einmal ein Motorradrennen vermerkt, aber das auch nur, weil es zu einem schweren Unfall kam. Ein besonderer Höhepunkt darf freilich nicht vergessen werden: Die ersten Versuche mit den Opel-Raketenautos unter der Leitung von Fritz von Opel, die zu den ganz großen Ereignissen gehören, die mit der Opel-Bahn untrennbar verbunden sind.

Am 12. März 1928 rollte der erste raketengetriebene Prototyp noch ohne Publikum an den Start und fauchte nach anfänglichen Problemen mit 75 km/h über das Oval. Kurze Zeit später bei der öffentlichen Premiere von ,,Rak 1" vor Prominenz und Vertretern der internationalen Presse katapultierte Rennfahrer Kurt C. Volkhart  sich und das Gefährt in acht Sekunden auf Tempo 100, obwohl nur die Hälfte der zwölf Raketen richtig zündeten!

Den Höhepunkt der Raketeneuphorie erlebte die werkseigene Rennbahn aber nicht mehr. Als Fritz von Opel selbst am 23. Mai des gleichen Jahres hinter dem Steuer von ,,Rak 2", einem torpedoähnlichen Geschoß auf vier Rädern, vor Zehntausenden von Zuschauern Platz nahm, geschah das auf der Avus in Berlin. Ein symbolträchtiger Vorgang, denn er bewies die nunmehr zutage tretende Schwäche der Opel-Bahn: Sie war der zu erwartenden Geschwindigkeit nicht mehr gewachsen. Fritz von Opel geriet selbst auf der Avus mit seinen paarweise hintereinander gezündeten 24 Raketen im Heck noch in Nöte. Für allerhöchstens 170 km/h war die Avus zugelassen, Rak 2 aber donnerte mit bis zu 230 km/h über die Strecke, wobei die Vorderräder kurz abhoben. Gegen den 1927 eröffneten Nürburgring und das 1932 hinzukommende Motodrom in Hockenheim hatte die Opel-Bahn mit ihrem begrenzten Geschwindigkeitspotential dann gar keine Chancen mehr.

In den dreißiger Jahren geriet die Opel-Rennbahn endgültig in Vergessenheit. Spätestens als Opel die Produktion von eigenen Rennwagen einstellte, wurde das Gelände am Schönauer Hof als Rennstrecke bedeutungslos. Die Strecke zerfiel. Im Zweiten Weltkrieg installierte die Wehrmacht auf dem Gelände Scheinwerferstellungen zur Fliegerabwehr. Nach Kriegsende nutzte man die Bahn noch einmal gemäß ihrer ursprünglichen Bestimmung: Bis 1948 wurden rund 1.500 Fahrzeuge der amerikanischen Besatzungsmacht von Opels Army Repair Shop instandgesetzt und auf der alten Rennbahn Probe gefahren.

1987 wurde die Opel-Rennbahn als technisches Kulturdenkmal eingetragen. Seit 2013 überragt immerhin ein kleines Besucherpodest die Nordkurve. Dort haben der Regionalpark und die Stadt Rüsselsheim ein Stückchen Strecke freigelegt und zahlreiche Infotafeln aufgestellt. Mittlerweile hat sich ein Verein gegründet, um die Piste zu erhalten. Ansonsten zeugen nur noch die überwucherte Betonbahn und Wallreste von der großen Vergangenheit dieses Areals, von dem Buschwerk und ein Wald mit hohen Kastanienbäumen längst wieder Besitz ergriffen haben. Raschelndes Laub hat das Motorengedröhne abgelöst, statt der Jubelchöre der Zuschauer ist Vogelgezwitscher zu hören.

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