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Tradition: 60 Jahre Citroen Ami 6 - Wenn die Karosserie als Kunstwerk kreiert wird

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Im Oktober 1961 feiert der Citroen Ami 6 auf dem Pariser Salon Premiere Foto: Citroen Kommunikation

Flaminio Bertoni, bei diesem Designer denken Petrolheads an die legendäre Göttin, den Citroen DS. Zu seinem besten Entwurf erklärte Bertoni allerdings den bizarr geformten Citroen Ami 6, der die simple Technik des 2 CV in die untere Mittelklasse brachte. So viel Provokation goutierten die Gallier: Der Ami 6 wurde das beliebteste französische Volksauto. 

Bei der ersten Begegnung mit diesem 1,52 Meter schmalen, aber bis zu fünfsitzigen Zweizylinder-Familienmodell ergeht es den meisten Menschen wahrscheinlich ebenso wie dem französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle, der im April 1961 beim Anblick des Citroen Ami 6 zuerst verblüfft, dann irritiert und schließlich sprachlos reagierte. Derart exzentrische Formen hatte sogar der bekennende Citroen-DS-Fan de Gaulle noch nie gesehen. Mit einem Charaktergesicht, das böswillige Kritiker damals mit der zerknautschten Front eines Unfallfahrzeugs verglichen, und in sogenannter ,,Z-Linie" mit inversem Rückfenster verlangte der Ami 6 vom Betrachter ähnlich viel Toleranz wie der minimalistische Citroen 2 CV, mit dem er sich wesentliche technische Komponenten teilte. Und dennoch avancierte der Ami 6 zum zeitweise populärsten Auto Frankreichs. Wie das? Tatsächlich war es Citroens Starcouturier Flaminio Bertoni, der nach dem 2 CV von 1948 und dem Citroen DS von 1955 auch den Ami 6 designte - und als passionierter Bildhauer jede Karosserie wie ein provozierendes Kunstwerk kreierte. Genau deshalb, erläuterte Bertoni in Interviews, dauerte es mehrere Jahre, bis seine skulpturalen Autodesigns verstanden wurden, um dann begeisterte Anerkennung zu finden. Bertonis Lieblingsentwurf, der Ami 6, gönnte sich sogar fünf Jahre, bis er die Spitze der gallischen Zulassungscharts eroberte - und inklusive des 1969 vorgestellten Evolutionstyps Ami 8 blieb die in 1,8 Millionen Einheiten gebaute Modellreihe fast zwei Jahrzehnte aktuell, ehe Citroen mit dem Visa einen kompakten Nachfolger fand.

Staatschef Charles de Gaulle, im Dienst nie ohne seine DS unterwegs, fand übrigens letztendlich ebenfalls Gefallen am Ami 6, der die gewaltige Lücke im Citroen-Programm zwischen 2 CV und DS füllen sollte. Eine Liebe auf den zweiten Blick, so wie von Flaminio Bertoni vorhergesagt. Nicht nur, dass de Gaulle an seinem französischen Feriendomizil mit dem auffälligen Viertürer gesichtet wurde, sogar Madame Yvonne de Gaulle brachte den Ami 6 in die Schlagzeilen: Bei der Publikumspremiere auf dem Pariser Salon 1961 bekam Frankreichs First Lady symbolisch einen Autoschlüssel für das schräge Modell mit inverser Heckscheibe überreicht - denn dieser Citroen sollte speziell die Herzen der Frauen erobern. Steht das Wort Ami doch nicht nur für Freund, sondern klingt der Modellname Ami 6 französisch gesprochen wie ,,La missis". Dass die exzentrische Miss Citroen ausgerechnet in England, dem größten Exportmarkt der Marke mit dem Doppelwinkel, floppte, enttäuschte die Franzosen sehr, weit mehr als das Unverständnis, mit dem die Deutschen auf das teuer eingepreiste Fräuleinwunder reagierten. Kostete der 3,87 Meter kurze Ami 6 Export doch hierzulande so viel wie ein stattlicher Ford Taunus 12 M, der fast einen halben Meter länger war und 40 kW/55 PS aus 1,2 Liter Hubraum holte, während der Citroen anfangs gerade 15 kW/21 PS generierte aus 0,6 Litern, die der Ami selbstbewusst als ,,6" im Typencode aufführte.

Auch in Frankreich verlangte Citroen für die extrovertierte Linie Z einen exklusiven Preis. So war der Ami 6 kostspieliger als der ebenfalls 1961 präsentierte unkonventionelle Renault 4, der sich als schärfster Rivale zu der in einem neuen Werk in Rennes gebauten Zweizylinder-Limousine entwickelte. Fünf Türen und ein praktisches Kombiheck - in dieser Form wünschten sich die Franzosen Familien- und Firmenautos, und genau das lieferte Renault. Bei Citroen waren es dagegen die Vorgaben des Generaldirektors Pierre Bercots, ein erklärter Kombihasser, die Flaminio Bertoni gezwungen hatten, den Ami als Limousine zu zeichnen. Vier Meter lang, vier Türen, großer Kofferraum und Platz für bis zu fünf Passagiere mit ausreichend Kopffreiheit im Fond - ermöglicht durch den Trick des inversen Heckfensters - der Ami erfüllte alle Layoutrichtlinien. Gleichwohl hatte Bertoni schon Mitte der 1950er Jahre auch einen Citroen im Kombistil gezeichnet, aber erst im Herbst 1964 entstand daraus der viersitzige Ami 6 Break, der fünfsitzige Break Familiale und der Commerciale als Kumpel für die Handwerker.

Schon im ersten Produktionsjahr hatte Citroen ein anderes Defizit des Ami 6 eliminiert. Das verwendete Stahlblech für das 640 Kilogramm leichte Fliegengewicht war derart dünn, dass es sich bei den auf dem Pariser Salon präsentierten Fahrzeugen verbeulte, sobald enthusiastische Messebesucher dagegen lehnten. Der Legende nach sollen die drei Ausstellungsfahrzeuge täglich getauscht worden sein, und in der Produktion wurden ab November um 40 Prozent stärkere Bleche genutzt. Den Ruf nach mehr Motorleistung für den mit maximal 105 km/h dahingleitenden, weil federweich abgestimmten Ami 6 erhörte Citroen ebenfalls und spendierte Ende 1963 immerhin 18 kW/24,5 PS. Die Kunden bedankten sich, indem sie die Jahresproduktionszahl der Limousine erstmals auf über 100.000 Einheiten trieben. Als etwas später auch noch die Kombiversion bereitstand, positionierte sich die Baureihe im Jahr 1966 auf Platz eins der französischen Zulassungsstatistik und auch die Citroen-Produktionsanlagen in Südamerika, Madagaskar und Spanien konnten zeitweise kaum die hohe Nachfrage bedienen. Sogar die Briten zeigten sich versöhnt als 1969 der Ami 8 die Linie Z in ein schickes Schrägheckdesign - aber ohne Heckklappe - übertrug und 1973 als Ami Super auf einen 40 kW/54 PS freisetzenden Vierzylinder-Boxer vertraute.

Dieser Boxer befeuerte bereits seit 1970 den avantgardistischen Citroen GS, der zum hausinternen Konkurrenten des Ami Super mutierte und als GS Birotor noch eine Gemeinsamkeit mit dem Ami teilte: die Rolle eines Vorreiters für Kreiskolbenmotoren. Mitte der 1960er Jahre hatte Citroen gemeinsam mit NSU das Unternehmen Comotor gegründet, in dem Wankelmotoren für Modelle beider Marken gebaut werden sollten. Beim Karossier Heuliez ließ Citroen daraufhin aus dem Ami das schicke Fastback-Coupé M 35 fertigen, in dem ein Einscheiben-Wankelmotor aus Comotor-Produktion arbeitete. Nur 267 ausgewählte Kunden bekamen das Privileg, den M 35 als ersten französischen Serien-Rotarier zu fahren, mussten sich dafür verpflichten, mindestens 30.000 Kilometer im Jahr zu absolvieren und das Auto den Citroen-Ingenieuren zur Analyse und Beseitigung eventueller Probleme zu überlassen. Nach diesem Feldversuch sollte der Citroen GS Birotor den Wankelmotor 1973 in die Massenfertigung führen, ein Versuch, der fehlschlug. Wie schon der M 35 war der GS Birotor zu teuer, obendrein beendete die erste Ölkrise die Karriere des durstigen Kreiskolbenmodells nach nur 847 Einheiten.

Auch die Reise des Ami näherte sich 1979 nach fast zwei Jahrzehnten dem Finale, denn der im Vorjahr eingeführte Visa traf den Geschmack einer neuen Generation von Kompaktklassekäufern. Vergessen ist Flaminio Bertonis außergewöhnlicher Ami allerdings bis heute nicht, dafür sorgt seit 2020 der ultrakurze Elektro-Kleinstwagen namens Ami, mit dem Citroen wie einst Konventionen bricht. 



Chronik:
1955: Erste Planungen für eine neue Citroen-Baureihe zwischen 2 CV und DS
1957: Das Entwicklungsprojekt mit der internen Bezeichnung ,,M" für ,,milieu du gamme" (Mittelklasse), später ,,AM", startet. Aus den Buchstaben formt sich später der Kunstname Ami. In Frankreich läuft der Ami 6 auch unter der nicht offiziellen Bezeichnung 3 CV. Laut Lastenheft sollte der Ami 6 einen großen Gepäckraum sowie Platz für fünf Passagiere auf maximal vier Metern Länge realisieren und als Motor eine leistungsgesteigerte Variante des 2-CV-Aggregats nutzen, auch die Fahrwerkstechnik des Ami 6 orientierte sich am 2 CV. Das Leergewicht des Fahrzeugs betrug nur 610 Kilogramm, so dass der Ami 6 Reisegeschwindigkeiten von über 100 km/h erreichte. Scheinwerferspezialist Cibie entwickelte für den Ami 6 trapezförmige Scheinwerfer, die dank kleiner Zusatzreflektoren eine um rund 25 Prozent bessere Fahrbahnausleuchtung ermöglichten im Vergleich zu herkömmlichen Rundscheinwerfern. Das Design des Ami 6 stammt von Flaminio Bertoni, der zuvor bereits für den 2 CV und die DS verantwortlich zeichnete
1959: Noch vor der Premiere des Ami 6 debütieren der britische Ford Anglia und amerikanische Lincoln-Modelle mit inverser Heckscheibe. Studien wie Packard Balboa (1953) und Packard Clipper (1955) deuten diese Idee nur formal an, ohne das Glas entsprechend zu formen
1961: Im April läuft die Produktion des Ami 6 in Frankreich an, wobei die ersten 600 Einheiten im Panhard-Werk produziert werden, weil das eigens für den Ami 6 in Rennes gebaute Werk noch nicht startklar ist. Ein Kombi ist in der Produktplanung zunächst nicht vorgesehen. Am 24. April erfolgt die Pressevorstellung parallel in mehreren europäischen Städten. Im Oktober feiert der Ami 6 auf dem Pariser Salon Premiere. Erste Modellpflege bereits im Herbst, der Ami 6 erhält nun eine von außen zu öffnende Kofferraumklappe und hintere Schiebefenster zur besseren Belüftung. Im ersten Modelljahr werden gut 19.000 Ami 6 ausgeliefert  
1962: Im zweiten Modelljahr wurden 85.358 Ami 6 produziert
1963: Die in Spanien verkauften Ami aus dem Citroen-Werk Vigo werden unter der Bezeichnung Citroën Dynam vermarktet. In den USA wird der Ami 6 unter der Bezeichnung ,,Citroen Four Door Sedan" eingeführt. Auf Madagaskar wird die Lizenz-Produktion des Ami 6 vorbereitet. Im September erhalten alle Ami 6 eine Leistungssteigerung von 21 auf 24,5 PS. Erstmals werden in einem Modelljahr mehr als 100.000 Ami 6 produziert (exakt 106.226 Einheiten)
1964: Vorstellung des Ami 6 Break im Herbst, finalisiert wurde das Design des Break von Bertonis Assistenten, denn Bertoni verstarb bereits im Februar
1965: Am 30. März läuft der viermillionste Citroen der Gesamtproduktion vom Band, ein Ami 6. Im Oktober stellt Citroen die neuen Nutzfahrzeuge 350 und 600 vor, die in der Kabine Designelement des Ami 6 zitieren, wie rückwärtsgeneigte Fensterrahmen und eine barocke Front im Bertoni-Stil
1966: Der Ami 6 belegt Platz eins in der französischen Neuzulassungsstatistik mit 162.366 Einheiten. Modellpflege mit Umstellung auf 12-Volt-Bordnetz. Citroen produziert erstmals über 500.000 Fahrzeuge (exakt 531.133 Einheiten) in einem Kalenderjahr
1967: In Spanien startet der bei Citroen Hispania gebaute Ami 6 Break aus namensrechtlichen Gründen unter dem neuen Namen Citroen Dyam (zuvor Citroen 3 CV)
1968: Im März wird eine Lieferwagenversion des Ami 6 Break eingeführt. Ab sofort leistet der höher verdichtete und mit Registervergaser ausgestattete Motor im Ami 6 und im Break 21 kW/28 PS bzw. 24 kW/32 PS (je nach Land und Leistungsnorm). Im Herbst läuft der einmillionste Ami 6 vom Band
1969: Im September läuft die Produktion des Ami 6 aus, nur die Nutzfahrzeugversionen werden noch weitere zwei Jahre gefertigt. Präsentation und Serienstart des Nachfolgers Ami 8. Beim Ami 8 handelt es sich um eine Evolution des Ami 6 als Schräghecklimousine (mit konventionellem Kofferraumdeckel) und als Kombi. Beim Karossier Heuliez Produktionsanlauf des Coupés M 35 mit Wankel-Motor und hydropneumatischer Federung. Ursprünglich sollen 500 Einheiten des ersten Citroen mit Kreiskolbenmotor verkauft werden
1971: Nach nur 267 Einheiten endet die Fertigung des M 35. Die Produktion des Ami 8 läuft in Argentinien an
1973: Vorstellung des Ami Super, der den Motor des Citroen GS erhält, in den Varianten Berline (Limousine), Break (Kombi) und Break Service (Lieferwagen ohne hintere Seitenverglasung)
1976: Der Ami Super wird eingestellt
1979: Vertrieb und Produktion des Ami 8 in Europa werden eingestellt. Nachfolger ist der im Vorjahr eingeführte Citroen Visa
1981: Produktionsstopp für den Ami 8 in Argentinien
2019: Auf dem Genfer Automobilsalon präsentiert Citroen das vollelektrische Ami One Concept für den Einsatz in Metropolregionen, aus dem ein Jahr später das Serienmodell Ami hervorgeht. Als 2,41 Meter kurzes und 6 kW/8 PS starkes Leichtfahrzeug darf dieser Ami auch mit dem Führerschein der Klasse AM gefahren werden   
2021: Im April jährt sich das Debüt des Ami 6 zum 60. Mal. Der neue elektrische Citroen Ami soll in Deutschland in den Handel kommen

Produktionszahlen
Citroen Ami 6:  1.039.384 Einheiten (1961-1969),
davon 483.986 Limousinen (Berline) und 555.398 Kombis (Break)
Citroen Ami 6 Commerciale: 3.518 Einheiten (1961-1971)
Citroen Ami 8: 773.344 Einheiten (1969-1978)
Citroen Ami 8 Commerciale: 27.431 Einheiten (1969-1979)
Citroen M 35: 267 Einheiten (1969-1971)

Preise:
Citroen Ami 6 (Mai 1962) ab 5.450 Mark
Citroen Ami 6 Standard (September 1962) ab 4.990 Mark
Citroen Ami 6 Tourist (1964) ab 5.150 Mark
Citroen Ami 6 Export (1964) ab 5.350 Mark
Citroen Ami 6 Break (1965) ab 5.490 Mark
Citroen Ami 6 (1968) ab 5.115 Mark
Citroen Ami 6 Break (1968) ab 5.590 Mark
Citroen Ami 6 Break (1969) ab 5.580 Mark
Citroen Ami 8 (1969) ab 5.480 Mark
Citroen Ami 8 Break (1969) ab 5.680 Mark
Citroen Ami Super (1973) ab 6.480 Mark
Citroen Ami Super Break (1973) ab 6.680 Mark
Citroen Ami Super (1976) ab 8.200 Mark
Citroen Ami Super Break (1976) ab 8.700 Mark
Citroen M 35 (1969) ab 13.950 Französische Francs
Citroen Ami (2021) ab ca. 6.000 Euro

Motorisierungen:
Citroen Ami 6 (ab 1961) mit 0,6-Liter-Zweizylinder-Boxer-Motor (15 kW/21 PS bzw. mit 18 kW/24,5 PS bzw. mit 21 kW/28 PS bzw. 24 kW/32 PS)
Citroen Ami 8 (ab 1969) mit 0,6-Liter-Zweizylinder-Boxer-Motor (21 kW/28 PS bzw. 24 kW/32 PS)
Citroen Ami Super (ab 1973) mit 1,0-Liter-Vierzylinder-Boxer-Motor (40 kW/54 PS)
Citroen M 35 (ab 1969) mit Einscheiben-Wankel-Motor mit 497,5 ccm Kammervolumen (36 kW/49 PS)
Citroen Ami (2021) mit Elektromotor (6 kW/8 PS)

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