Tuning

Zurück zum puren Motorradfahren

  • In MOTORRAD
  • 3. September 2015, 14:54 Uhr
  • Ralf Schütze (vm)

'New Heritage?, 'Vintage', 'Café Racer' - aktuelle Motorrad-Trends gleichen einer Nostalgie-Welle: Puristische Bikes im Stile der 60er Jahre, die man noch selbst reparieren kann. Blech und Leder statt Kunstoff und Hightech.


"Jeder trägt hier Boots und Jeans, T-Shirt oder Hemd - egal ob 26 oder 66. Da fühl' ich mich einfach wohl, das ist genau meine Welt. Das ist ein bisschen so, als wenn man offline geht, zurück zum Wesentlichen." Christoph Lentsch aus Wiener Neustadt ist der typische junge Nostalgie-Biker von heute: Ein Rebell mit Rauschebart, unangepasst und selbstbewusst. Seine alte BMW hat er zu einem Unikat umgebaut, das seinen Lebensstil ausdrückt. Lentsch ist begeistert von dem, was Tausende von Fans bei Festivals wie dem jährlichen "Wheels And Waves" in Biarritz erleben: Motorradfahren, reduziert auf den puren Kern der Sache.

Stichwort "Customizing": Das immer populärere Verwandeln des eigenen Bikes von der käuflichen Massenware zum unverwechselbaren Einzelstück ist groß im Kommen. Es geht einher mit einer wahren Nostalgie-Welle: "Vintage"- und "Heritage"-Stil prägen die Umbauten von günstigen und selbst reparierbaren Youngtimern wie den Zweiventil-Boxern von BMW, V2-Modellen aus Milwaukee (Harley-Davidson) und Mandello (Moto Guzzi) oder japanischen Vierzylindern wie der Honda CB 750. Sie sind mindestens 20 Jahre alt, meist im Stile der Swinging Sixties-Sportmotorräder namens "Café Racer" umgebaut. Viel besser als aktuelle Hightech-Bikes spricht diese nach "Old School" riechende Szene den jungen Nachwuchs an. Ähnliche Trends machen sich in Mode, Fotografie oder Musik breit. Einfachere Produkte von früher sind gefragt: Vinyl-Schallplatten, Krempel-Jeans, Foto-Apparate oder Rockabilly - und eben luftgekühlte Bikes mit Vergaser statt Einspritzung.

Motorrad-Freak Lentsch kommt in Biarritz gar nicht mehr aus dem Schwärmen heraus: "Besonders beeindruckt mich die Handwerkskunst, die man hier überall sieht. Da ist ein bisschen geklopft worden, die Schutzbleche sind alle mit dem Hammer bearbeitet - so muss das aussehen für mich." Dank solch liebevoller Umbauten sind Veranstaltungen wie "Wheels And Waves" innerhalb der vergangenen Jahre förmlich explodiert: Ein paar Dutzend Biker und Surfer trafen sich 2012 erstmals im französischen Baskenland. Aus der eher spontanen, dreitägigen Strandfete ist 2015 ein Festival mit rund 10.000 Besuchern aus aller Welt geworden.

Vor allem sind es Privatleute, die ihre Café Racer und andere Custom-Bikes selbst im strömenden Regen schmerzfrei an die Atlantik-Küste steuern, um mitzufeiern. Aber auch Profis wie Roland Stocker sind hier. Liebend gerne nimmt er die 1.518 Kilometer von München nach Biarritz in Kauf, um "Wheels And Waves" mitzuerleben. Stocker war Projektleiter für die wegweisende BMW R nineT - ein nostalgisch-puristisches Serienmotorrad, das von Beginn an für leichten Umbau konzipiert war. Mit ihr hat BMW 2013 früh den Vintage- und Custom-Trend erkannt.

Im Sommer 2015 ist auch er vom Festival am Atlantik begeistert: "Wheels And Waves ist ein Schmelztiegel für die Customizer-Szene. Es ist wunderbar zu sehen, wie aus ganz Europa und auch von Übersee die Menschen hierher kommen. Und ihre Bikes sind keine hochglanzpolierten Ausstellungsstücke, sondern spürbare Lebenseinstellung." Derartige Maschinen sieht man haufenweise beim Wheels And Waves. So auch 2015 den BMW-Prototypen "Concept Path 22", entworfen von BMW Motorrad-Designer Ola Stenegard. Es ist ein offenes Geheimnis, dass ein ähnliches Serien-Bike als "Scrambler" fürs leichte Gelände bald folgen wird.

Auch Triumph, Ducati und Yamaha sowie Harley-Davidson zeigen Flagge in Biarritz. Aus gutem Grund, wie Harley-Chefdesigner Ray Drea verrät: "Mir gefällt besonders die Ehrlichkeit der Bikes hier. Alles ist authentisch. Denn die Maschinen werden wirklich gefahren, und das kannst Du sofort erkennen." Die Kult-Marke aus Milwaukee sei derzeit besonders auf junge Zielgruppen aus. Gerade hierfür sei "Wheels And Waves" eine unschätzbar wertvolle Inspiration: "Das alles ist wirklich Hirnnahrung für mich." Als besonderen Customizing-Trend habe Ray Drea "Performance" ausgemacht: Immer mehr Aluminium und Schwarz statt Chrom.

Sport und Performance - zwei Trends, die sich seit Jahren in immer zahl- und fantasiereicheren Custom-Bikes wiederfinden. Das wird ganz besonders vom 4. bis 6. September beim "Glemseck 101" in Leonberg der Fall sein. Ein Trip zum größten Café Racer-Festival Europas am Rande der historischen Rennstrecke Solitude lohnt sich nicht nur für eingefleischte Fans. Neben reizvollen Umbauten lockt vor allem der Achtelmeile-Sprint die Massen zum Glemseck. 2014 waren an drei Tagen Zehntausende Besucher begeistert - und genossen den Lebensstil vom neuen, alten Motorradfahren.

Ralf Schütze

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