Motorrad

Panorama: 79. Sturgis Motorcycle Rally - So tickt der Westen - manchmal

  • In MOTORRAD
  • 30. August 2019, 09:34 Uhr
  • Ulf Böhringer/SP-X

Wenn mehr als eine halbe Million Biker auf ein 6.000-Seelen-Städtchen treffen, kann das schwierig werden. Oder eine Riesenparty. Impressionen vom größten Motorradfahrer-Treffen der Welt.

Viel kann wohl nicht los sein übers Jahr in der Kleinstadt Sturgis im amerikanischen Bundesstaat South Dakota. Der, durchflossen vom Missouri River, liegt im Irgendwo des weiten mittleren Westens der USA, umgeben von den Staaten Minnesota im Osten, North Dakota im Norden, Wyoming im Westen und Nebraska im Süden, allesamt sogenannte ,,Flyover-Staates" in den Augen jener, die wichtig sind in Amerika und die deshalb in Kalifornien, Florida oder an der Ostküste des riesigen Trump-Reichs leben.

Die meisten Läden in Sturgis' Mainstreet sind das Jahr über geschlossen. Doch jedes Jahr Anfang August erwacht das 6000-Einwohner-Städtchen aus seiner agonieartigen Beschaulichkeit und verfällt für zehn Tage in den Hyperaktivitäts-Modus. Dann ist Sturgis das Mekka der nordamerikanischen Motorradfahrer. Eine halbe Million von ihnen, in manchen Jahren sogar eine dreiviertel Million, steuert während der Sturgis Motorcycle Rally das Nest im Westen des dünn besiedelten South Dakota an. Dann vibriert die Luft von den Schwingungen der meist nur unwesentlich schallgedämpften fetten V2-Motoren amerikanischer Provenienz, dann klingeln, nein rasseln die Kassen in Läden, Saloons und Verkaufsständen in Sturgis Downtown, dann wimmelt es dort von Cops, die oft von weither anreisen, um den städtischen Kollegen zu helfen, die Massen an Zweiradfahrern zu kanalisieren. Sturgis während seiner Motorcycle Rally muss man als Besucher aus Europa als Ereignis der Kategorie ,,Orkan Kyrill" empfinden.

Wer im Auge des Taifuns nächtigen möchte, versuche ein Zimmer in Sturgis Downtown zu kriegen. Die zehn Tage lang als Großparkplatz für Motorräder und Trikes ausgewiesene Main Street ist der richtige Ort fürs Sehen und Gesehen werden. Hier tragen graubärtige Zweiradhelden vergangener Jahre ihre Tattoos herum; gewandet sind sie natürlich in Jeans und ein jahresaktuelles ,,Sturgis"-T-Shirt, auf dem oft wallenden oder nicht mehr vorhandenen Haupthaar thront ein ,,Sturgis"-Cap. Die vielen Sozias sind mitunter schick, einige auch nur rudimentär bekleidet. Die Helmtragequote ist in South Dakota gering, dafür liegt der Harley-Anteil nach Untersuchungen der Veranstalter bei gut 70 Prozent, gefühlt aber weit höher. Indians werden zunehmend beliebter, die legendäre Honda Goldwing, Japans viele Jahre in den USA gebautes Tourer-Schlachtschiff, genießt augenscheinlich Heimvorteil. BMWs sind wahrnehmbar, vor allem als GS und in Form der sechszylindrigen K 1600-Modelle. Obzwar nur eine Minorität, fallen die Bayern-Bikes aber immer noch stärker ins Auge als die japanischen und die anderen europäischen Marken.

Sturgis, das darf man sich nicht so vorstellen wie die stark zentralisierten Treffen von Motorradfahrern in Europa. Die Motorcycle Rally beansprucht riesige Flächen fürs Campen und Parken, schließlich reist die Mehrzahl der Besucher oft von weit her mit dem Camper samt Bikes auf dem Hänger an. Einige Meilen vor der Stadt liegt beispielsweise der Bereich Buffalo Chip, wo seit langem die auch zur Rally gehörenden Flat-Track-Rennen ausgetragen werden. Auch dort stehen Verkaufs- und Imbissbuden für Zehntausende, es gibt zahllose Bars, dazu Ausstellungsflächen für Campinganhänger, minder wichtige Motorradhersteller und vieles mehr. Auch eine vielhundertflach beflaggte Gedenkstätte für verstorbene Kriegsveteranen erstreckt sich hier auf Tausenden von Quadratmetern. Hinzu kommen ausgedehnte Parkflächen für Besucher. Und eben riesige Wiesenflächen für Zelte, Wohnmobile und Campinganhänger. Wer will, kann dort tageweise eine mobile Toilettenkabine mieten.

Zudem findet sich in Buffalo Chip eine Ausstellungshalle, in der das Motorrad als Kunstobjekt gefeiert wird. Michael Lichter, ein Zweiradenthusiast vor dem Herrn und anerkannter Kunstfotograf, hat zur Schau geladen, und mehr als 40 Motorrad-Umbaukünstler, international Customizer genannt, haben auf seine Offerte hin jeweils ein Bike angefertigt. Natürlich Lichters Show-Motto folgend; es hieß 2019 ,,What's skinny?". ,,Das ist doppeldeutig", erklärt der Ausstellungsmacher. ,,Einerseits sind damit besonders schlanke Bikes gemeint, andererseits handelt es sich bei ,,What's skinny" um eine Slang-Formulierung mit der Bedeutung ,,Was ist grad' los im Sinne von aktuell oder wichtig." Lichters Schau ist, fraglos, beeindruckend: Alle Ausstellungsstücke, schlanke, reduzierte Zweiräder, sind mit unglaublichem Aufwand an Phantasie, Zeit und Materialbearbeitung hergestellt worden. Egal ob im Stil eines Choppers oder Sportbikes für Eisrennen.

In Buffalo Chip hat BMW die ersten, noch ein wenig tastend erscheinenden Versuche gemacht, den Amis Appetit auf eine Alternative zu Harleys und Indians zu machen. Die Bayern transportierten die der Weltöffentlichkeit Ende Mai präsentierte Concept R 18 erstmals über den großen Teich und zeigten das schon recht seriennahe Conceptbike allen, die es sehen wollten, und zwar samt dem irren Custombike ,,Revival Birdcage" mit Filigran-Titanrahmen. Auch dessen Vorläufer ,,Deserted" des japanischen Customizers Zon war zu sehen, und zwar in Lichters Kunst-Schau. Der fette, in allen drei Versionen installierte 1,8-Liter-Boxer imponierte, die Linienführung des Conceptbikes ebenfalls. Wenn die Bayern es tatsächlich schaffen, aus der R 18 eine ganze Modellfamilie samt Bagger und Tourer entstehen zu lassen, könnte sich die Marke möglicherweise in Lauf der Zeit auf das Niveau von Hondas Goldwing liften. Vielleicht sogar noch höher.

Aber erst einmal wird dieser Tage das Städtchen Sturgis wieder zur Ruhe gebettet. Die Cops von außerhalb sind schon weg, die übrig gebliebenen Merchandising-Artikel in Kisten verpackt, die Dutzende transportabler Verkehrsampeln wieder in die Lager geschafft. Die umfangreichen Ausstellungen neuester Wohnmobile werden wieder aufgelöst. Auch die Mülltonnen von Sturgis werden von den Werbeschildern befreit, mit denen sie ,,verziert" waren: Hauptsächlich zwei riesige Rechtsanwalts-Konzerne hatten die grünen Tonnen mit Beschlag belegt. Alle Tonnen! Am meisten ins Auge fiel dabei ,,Law Tigers"; die Firma dazu hatte zahllose luftgefüllte Tiger-Figuren in immensen Dimensionen auf Sturgis' Haus- und Tankstellendächern platziert, während sich andere Anwaltsunternehmen auf quer über die Straße gespannte Transparente beschränkten.

Europäische Besucher in Sturgis sind augenscheinlich selten. Schade, denn hier in den Weiten des amerikanischen Westens lässt sich gut erkennen, wie dieses Amerika wirklich tickt. Und es lässt sich hier trefflich sinnieren, ob ein solches Event - nächstes Jahr steht die 80. Rally mit vermutlich wieder mal einer Dreiviertelmillion Feierwütiger an - gut ist fürs Weltklima oder nicht. In den USA gilt diesbezüglich die unumstößliche Überzeugung, man habe nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, diese Tradition fortzuführen. Auch wenn sich kommendes Jahr - vielleicht schon - die eine oder andere vollelektrische Harley-Davidson Livewire unters zumeist schalldämpferlose V2-Volk traut.

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