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Tradition: 50 Jahre Volvo 140 - Kantig und cool wie Knäckebrot

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  • 15. August 2016, 15:24 Uhr
  • Wolfram Nickel/SP-X

Sie schienen Autos für die Ewigkeit zu sein, wie nicht wenige verwitterte und doch fahrbereite Kilometer-Millionäre im sch wedischen Straßenbild beweisen. Vor allem aber sind die 140er die ersten Volvo in Millionenauflage. Langlebige Limousinen und Kombis mit klaren Linien, deren Sicherheitstechnik sogar die Gesetzgebung beeinflusste

Vielleicht musste ein solch unaufgeregtes Auto irgendwann aus dem Land der Knäckebrotbäcker kommen. Kantige Konturen, trocken-pragmatische Vierzylinder-Benziner sowie eine fast unvergängliche Frische, das waren die Zutaten, mit denen der viertürige Volvo 144 vor einem halben Jahrhundert vorfuhr - und alle Volvo-Fans verblüffte. Stand doch die skandinavische Marke bis dahin für die modisch rundlichen Formen des Buckel-Volvo und des Amazon, die sogar bei Concours d'Elegance Preise gewannen. Aber jetzt machte Volvo-Chefdesigner Jan Wilsgaard alles anders. Seine Mission war es, ein neues, unverwechselbares Markendesign zu kreieren. Dazu zählten schlichte, kantig-klassische Linien ebenso wie das dritte Seitenfenster. So prägten fortan die kastenförmigen Limousinen 142 und 144 sowie der riesige Kombi 145 das Image von Volvo als Hersteller fast unzerstörbar sicherer und funktionaler Familienfahrzeuge. Autos wie Panzer, von Amerikanern und Engländern gerne ,,Tank" genannt. Was Motorsporterfolge nicht ausschloss, wie die vom Volvo Competition Service geschärften 142 und 144 etwa bei der East African Safari oder der Baja-Rallye bewiesen. Vor allem aber wurde der Volvo 140 als erstes Modell aus Göteborg Produktionsmillionär und zusammen mit der Weiterentwicklung Volvo 240 bis heute der meistgebaute Volvo aller Zeiten. Ganz nebenbei gelang Volvo mit der Serie 140 der Durchbruch in Deutschland - was zuvor weder der Buckel-Volvo noch der Amazon vermocht hatten.
 
Dabei war der im August 1966 vorgestellte Volvo 144 technisch mit dem Amazon verwandt, tatsächlich wurden sogar die ersten Erprobungsfahrten der neuen Fahrzeuge im Karosseriekleid des Amazon durchgeführt. Einer bereits zehn Jahre alten Baureihe, die sich bei den Kunden solcher Popularität erfreute, dass sie bis 1970 parallel zum Nachfolger im Programm blieb. Zu diesem Zeitpunkt hatten der Volvo 140 in allen Karosserieformen und auch der luxuriöse Volvo 164 mit längerem Radstand und 3,0-Liter-Sechszylindermotor die Marke bereits auf einen bis dahin beispiellosen Höhenflug geschickt. Und Jan Wilsgaards Designlinien für die 140er und 160er - mit denen er sich gegen konkurrierende Entwürfe der italienischen Stardesigner Frua und Ghia durchgesetzt hatte - waren zum stilistischen Markenzeichen aller neuen Volvo geworden.
 
Gespart hatte die frische Volvo-Mittelklasse anfangs bei den Motoren, die aus dem Amazon übernommen wurden und weiterhin 55 kW/75 PS bis 74 kW/100 PS leisteten. Dennoch konnten sich die Vierzylinder im Wettbewerbsumfeld von Mercedes 200, BMW 1800/2000, Opel Rekord C oder Peugeot 404 sehen lassen. Einen Sprung nach vorn gab es im Herbst 1968 mit der Einführung des B20-Vierzylinders, der aus 2,0-Liter-Hubraum mindestens 60 kW/82 PS und mehr Drehmoment freisetzte. Die später nachgelegte sportliche Spitzenversion Volvo 142 GT brachte es sogar je nach Markt auf 91 kW/124 PS bis 103 kW/140 SAE-PS und gewann auf Anhieb Kultstatus. Waren doch unter den vergleichbaren zweitürigen Europäern nur die Sechszylinder Opel Commodore GS/E und Ford Granada 3000 ähnlich temperamentvoll. Eigentlich aber trat dieses deutsche Duo gegen das im Herbst 1968 lancierte Volvo-Flaggschiff des Typs 164 an. Kennzeichnend für diese auch im Staatsdienst eingesetzte Prestigelimousine waren der um zehn Zentimeter auf 2,70 Meter verlängerte Radstand, ein mächtiger Chrom-Kühlergrill und die in Leder schwelgende Luxusausstattung.
 
Dabei folgte die Typenbezeichnung 164 der von Volvo mit dem 144 neu eingeführten Nomenklatur. Die ,,1" stand für die Baureihe, die zweite Ziffer - also die ,,4" oder die ,,6" - , indizierte die Zylinderzahl und die dritte Ziffer  - ,,2", ,,4" oder ,,5" - die Zahl der Türen. Während die Schweden mit ihrem Sechszylinder in den Verkaufszahlen gegen BMW, Mercedes und Jaguar aber nur Achtungserfolge errangen, fuhren alle Volvo 140er und 164er bei der Sicherheitsausstattung dem Markt voran.
 
Schließlich galt es weitere weltweite Sicherheitsstandards zu setzen - dies vor allem mit Blick auf die Durchdringung des amerikanischen Marktes. So besaßen die Volvo 140/164 nicht nur eine Sicherheitsfahrgastzelle mit Knautschzonen und Dreipunktsicherheitsgurten auf allen Plätzen, sondern auch neuartige Prallschutzdetails wie mit Kunststoffen gepolsterte Armaturen sowie eine Sicherheitslenksäule mit Sollbruchstelle. Maßstäbe in der Mittelklasse setzte zudem die Bremsanlage mit Scheibenbremsen an allen vier Rädern und zwei separaten Bremskreisen. Handlich wie Kleinwagen waren die Familienfahrzeuge dagegen dank des fast einzigartig kleinen Wendekreises von 9,25 Metern, nur die notwendigen Lenkkräfte erinnerten nachdrücklich an das tatsächliche Format der schwedischen Flaggschiffe.
 
In Schweden eroberte Volvo so fast ein Viertel des Neuwagenmarktes und in Nordamerika hob die Nachfrage derart ab, dass die Kunden monatelange Lieferzeiten akzeptierten und die USA ab 1973 überdies global größter Volvo-Markt wurden. Drei Jahre später wählte die amerikanische Verkehrssicherheitsbehörde NHTSA die zum Modell 240 weiterentwickelten Nordeuropäer sogar als Referenzfahrzeuge für die Definition künftiger Sicherheitsnormen. Auch in Deutschland war es das Thema Sicherheit, das Volvo einen Imagevorsprung brachte, der besonders Ford- und Opelfahrer zu Volvo-Fans machte.
 
Dazu beitragen konnte der eingängige Slogan ,,Sicherheit aus Schwedenstahl" unter provozierenden Werbeanzeigen, die sich im Gedächtnis verankerten. Sei es das Foto einer halbnackten Frau, deren Oberkörper vom Druckstreifen des Sicherheitsgurtes gezeichnet war und dazu die Erklärung: ,,Sie lebt. In ein paar Tagen wird nicht einmal mehr der Druckstreifen an den Unfall erinnern". Oder das Bild eines Menschen, der einen Totenschädel auf der Hand trägt und kommentiert: ,,Sein oder Nichtsein. Das ist die Frage für 2 Millionen Autokäufer in diesem Jahr. Einige entscheiden sich für Volvo. Sie entscheiden sich für das Sein". Drastische Werbung und eine souveräne serienmäßige Sicherheitstechnik, durch die sich Volvo in Deutschland aus dem Nischendasein befreite und seinen Jahresabsatz in kurzer Zeit fast versechsfachte. Dabei akzeptierten die deutschen Käufer sogar, dass die Typen 144 und 145 mit Abstand die teuersten Fahrzeuge ihrer Klasse waren.
 
Äußerliches Erkennungszeichen der Evolution der 140er-Reihe bis zur Serie 240 im Jahr 1974 waren vor allem Leuchteinheiten und Stoßfänger, die wie Jahresringe an einem Baum in mehreren Stufen an Umfang zunahmen. Mit Einführung der 240er- und 260er-Reihen entwickelten sich die klassischen Volvo schließlich zur Großfamilie mit fast unüberschaubar vielen Karosserieversionen. So blieben die Hinterradantriebsmodelle bis zum Jahr 1993 in Bestform. Vielleicht, um so dem damals neuen Modell 850 als erstem großen Volvo mit Frontantrieb wenigstens noch ihre kantigen Formen zu vererben.

Chronik Volvo Serie 140:

1960: Im Juni beginnt die Entwicklung des Projekts 660 (=6/1960), der Typenreihe 142/144 und 145, als Nachfolger der Baureihe Amazon/120
1962: Von den italienischen Designstudios Frua und Ghia werden Entwürfe für das Projekt 660 eingeholt, dennoch wird die Grundform von Volvo-Chefdesigner Jan Wilsgaard entwickelt. Kennzeichen sind kantige Linien und drei Seitenfenster
1964: Im Januar wird bis auf den Kühlergrill das finale Design für die Typen 142 und 144 verabschiedet, im Februar für den Kombi 145
1965: Mehrere Erlkönigfahrzeuge mit dem Signet Mazuo ZT92 werden von der Presse gesichtet
1966: Am 17. August enthüllt Volvo-Chef Gunnar Engellau die Volvo-Modellreihe 140, die mit 150 Millionen schwedischer Kronen bis dahin kostspieligste Fahrzeugentwicklung von Volvo.  Der Volvo 144 feiert sein Debüt mit neuem Nummerierungssystem, bei dem die letzte Ziffer die Zahl der Türen indizierte (also etwa 144 = Viertürer)
1967: Im Februar gewinnt Volvo die Goldmedaille des schwedischen Automobilverbands für das neuartige Zweikreis-Bremssystem als bedeutender Verkehrssicherheitsinnovation bei einem Serienmodell des Jahres 1966. Außerdem gewinnt der Volvo 144 den Medienpreis ,,Auto des Jahres in Schweden". Im März werden die ersten 1.000 Volvo 144 in die USA verschifft. Insgesamt werden in diesem Jahr 33.189 Volvo in den USA abgesetzt, das beste Ergebnis seit 1955, als Volvo erstmals in Nordamerika antrat. Einführung des zweitürigen Volvo 142 im Mai, Produktionsstart des fünftürigen Kombis 145 im November. In Schweden wird von Links- auf Rechtsverkehr umgestellt. Die Lieferzeit für einen Volvo der 140er Reihe beträgt in Europa rund acht Monate, damals eine außergewöhnlich lange Zeit. Auch in Deutschland feiert die Volvo 140-Serie ihren Marktstart. Im Jahr 1967 werden hierzulande insgesamt 2.350 Volvo zugelassen. Vor allem dank der Volvo-140-Serie steigt der Jahresabsatz bis 1971 auf 13.086 Einheiten
1968: Im März internationaler Vertriebsstart für den Volvo 145. Im Herbst Einführung des 164 mit verlängertem Vorderwagen, der Raum für den 3,0-Liter-V6-Zylinder schafft. Präsentation der Taxiversion des Volvo 144 schon im April mit serienmäßiger Dreigangautomatik (auf Wunsch auch Schaltgetriebe) und in den Farben schwarz oder weiß. Zum Modelljahreswechsel im Herbst Einführung des neuen 2,0-Liter-B20-Motors in den 140er-Modellen und im Amazon. Die 140er-Baureihe wird meistverkauftes Auto überhaupt in Schweden
1969: Einführung des Volvo 145 Express, einer Hochdachvariante des Kombis als Nachfolger des Volvo Duett. Modellpflege für die 140er-Reihe, diese sind nun mit Sicherheitskopfstützen vorne und Sicherheitsgurten auf allen fünf Sitzen ausgestattet, auch die Warnblinkanlage wird Serienstandard
1970: Die Produktion des Volvo Amazon wird nach 13 Jahren eingestellt, die 140er Reihe übernimmt die Nachfolge. Ab Herbst für den Jahrgang 1971 mit Modellpflege, dazu zwei Zentimeter mehr Radstand und vorab für die neue De-Luxe-Version (später DL genannt) mattschwarzer Kühlergrill und Volvo-Diagonale. Später auch für die anderen 140er neues Kühlergrilldesign. Neue zweitürige Spitzenversion Volvo 144 GL (Grand Luxe, auf einigen Märkten auch als 144 E angeboten) mit mattschwarzem Kühlergrill, zusätzlichen Fernscheinwerfern, Ledersitzen und mehr Motorleistung
1971: Warnleuchte für nicht angelegte Sicherheitsgurte, dazu erhält der Beifahrerplatz eine Sitzbelegungserkennung per Sensor. Ab Herbst versenkte Türgriffe und Interieurmodifikationen. In Schweden wird der Volvo 142 GT ins Programm genommen mit schwarzen Rädern und weißen Seitenstreifen. Präsentation des Volvo 164 E mit B30E-Triebwerk und elektronisch geregelter Benzineinspritzung
1972: Zum Modelljahr 1973 neu gestaltete Instrumententafel, neuer massiver Seitenaufprallschutz in den Türen, anders gestaltete, größere Blinkleuchten und neue Heckleuchten. Seitenaufprallschutz, neue Stoßstangen und modifizierter Grill für den Volvo 164. Das Sicherheitskonzeptfahrzeug VESC nimmt die Idee der künftigen Modelle 240/260 vorweg: Klassensieg bei der legendären Marathonrallye Baja 1000 für einen Volvo 144
1973: Noch im siebten Produktionsjahr bestätigt die Serie 140 trotz beginnender Ölkrise mit 218.155 produzierten Einheiten ihre anhaltende Popularität. Der Exportanteil beträgt fast 80 Prozent. Erstmals werden die USA vor Schweden größter Markt für Volvo. In Schweden erzielt Volvo 26,4 Prozent Marktanteil. Zum Modelljahr 1974 entfallen die vorderen Ausstellfenster (auch beim Volvo 164) und die Stoßstangen werden massiver und höher positioniert, so wie in den USA vorgeschrieben. Allerdings vertragen sie in Europa nur Aufprallgeschwindigkeiten bis 5 km/h (in den USA 8 km/h) ohne bleibende Verformungen 
1974: Im August Premiere der Serie Volvo 240 als Weiterentwicklung der 140er Reihe. Die 240er unterschieden sich gegenüber den 140ern vor allem durch eine andere Front- und Heckgestaltung sowie ein frisches Interieur. Der Volvo 164 läuft bis 1975 weiter
1975: Der Volvo 264 ersetzt den 164. Vorstellung des Sechszylinderkombis Volvo 265
1976: Die amerikanische Verkehrssicherheitsbehörde NHTSA wählt den 240 als Referenzfahrzeug für die Definition künftiger Sicherheitsnormen
1977: Das Volvo 262 Coupé wird enthüllt. Das exklusive Coupé wird bei Bertone in Italien umgebaut
1979: Sechszylinder-Diesel D6 von Volkswagen wird im 240 eingeführt
1982: Am 2. Februar wird der Volvo 760 als Nachfolger der 240er vorgestellt. Dieser wird aber zunächst uneingeschränkt weitergebaut
1984: Einführung des Volvo 740
1991: Das amerikanische Versicherungsinstitut IIHS bezeichnet den 240 als sicherstes Fahrzeug auf dem US-Markt.Debüt des Volvo 850 als Nachfolger der Baureihen Volvo 240 und 740
1992: Einstellung der Produktion der 740er-Baureihe
1993: Am 5. Mai wird nach fast 1,3 Millionen produzierten 140er-Modellen und mehr als 2,6 Millionen 240/260ern die Produktion der Modellreihe 240 eingestellt. Als letzter Volvo 240 rollt ein Kombi des Sondermodells Polar vom Band

Ausgewählte Produktionszahlen:

Volvo 140/160: insgesamt 1.251.371 Einheiten (1966-1975), davon 459.246 Volvo 142 (1967-1974), 523.808 Volvo 144 (1966-1974), 268.317 Volvo 145 (1967-1974).
Volvo 164: insgesamt 146.008 Einheiten (1968-1975).
Volvo 240/260: insgesamt 2.685.013 Einheiten (1974-1993), davon 242.621 Volvo 242/240 (1974-1984), 1.483.399 Volvo 244/240 (1974-1993), 959.151 Volvo 245/240, 132.390 Volvo 264/260 (1974-1982), 3.329 Volvo 262 (1975-1977), 35.061 Volvo 265/260, 6.622 Volvo 262C (1977-1981)
 
Motorisierungen Volvo 140/164:

Volvo 142 mit 1,8-Liter-Vierzylinder-Benziner (55 kW/75 PS bis 74 kW/100 PS bzw. auf Märkten mit SAE-PS-Norm bis 85 kW/115 SAE-PS) bzw. mit 2,0-Liter-Vierzylinder-Benziner (60 kW/82 PS bis 91 kW/124 PS, auf einzelnen Märkten auch bis 103 kW/140 SAE-PS);
Volvo 144 mit 1,8-Liter-Vierzylinder-Benziner (55 kW/75 PS bis 74 kW/100 PS bzw. auf Märkten mit SAE-PS-Norm bis 85 kW/115 SAE-PS) bzw. mit 2,0-Liter-Vierzylinder-Benziner (60 kW/82 PS bis 91 kW/124 PS, auf einzelnen Märkten auch bis 99 kW/135 SAE-PS);  
Volvo 145 mit 1,8-Liter-Vierzylinder-Benziner (55 kW/75 PS bis 74 kW/100 PS bzw. auf Märkten mit SAE-PS-Norm bis 85 kW/115 SAE-PS) bzw. mit 2,0-Liter-Vierzylinder-Benziner (60 kW/82 PS bis 74 kW/100 PS);
Volvo 164 mit 3,0-Liter-Sechszylinder-Benziner (96 kW/130 PS bis 118 kW/160 PS bzw. auf Märkten mit SAE-PS-Norm bis 129 kW/175 SAE-PS).

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