70 Jahre Mercedes-Benz 180/190 (W 120/121)

70 Jahre Mercedes-Benz 180/190 (W 120/121) - Ein Ponton fürs Prestige

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  • 27. März 2023, 12:09 Uhr
  • Wolfram Nickel/SP-X

Dieser Benz war der Volkswagen für Besserverdienende im Wirtschaftswunderland. Die in moderne Pontonformen gekleideten Mercedes-Typen 180/190 parkten in den 1950ern vor den Villen von Fabrikanten und Freiberuflern. Praktisch allgegenwärtig war der ,,Ponton' aber auch am Taxistand, denn mit ihm ging der Diesel in Großserie.  

Die Zeichen standen auf Veränderung, damals vor 70 Jahren im deutschen Wirtschaftswunderland: In den Kinos verdrängte Hollywood die Heimatfilme, Rockabilly und Pettycoat erreichten die Tanzlokale, der Pkw-Bestand überstieg die Millionenmarke, und die neuen Mercedes-Modelle 180 (W 120) und 190 (W 121) adaptierten die amerikanische Ponton-Karosserie so erfolgreich, dass sie bald zum bedeutendsten Premium-Protagonisten dieses Designtrends avancierten. Nicht der preiswerte Straßenkreuzer Opel Kapitän, sondern die nur knapp 4,50 Meter messenden, aber fast ebenso kostspieligen Ponton-Mercedes 180/190 parkten als populärste Prestigesymbole vor den Villen von Ärzten, Rechtsanwälten oder kleinen Fabrikanten.  

Sogar in Nordamerika sorgten diese ersten Stuttgarter Limousinen mit selbsttragender Karosserie für Furore: Im Land der Fullsize-V8 warb Mercedes für seine kompakten Vierzylinder mit einer 8.200-Kilometer-Marathontour von Seattle nach Washington, D.C., und das mit Dieselmotoren, die Amerikaner sonst nur aus Trucks kannten. Gerade einmal 32 Dollar und 27 Cent kostete der Treibstoff für diese Kontinentalfahrt, eine Sensation. Auch in Europa waren die Diesel-Typen 180 D/190 D für Überraschungen gut, denn Mercedes machte die anfangs nur 29 kW/40 PS leistenden Selbstzünder gesellschaftsfähig. Vor allem das Taxigewerbe tankte fortan Diesel, zumal die Selbstzünder das Potential zum Kilometer-Millionär mitbrachten.

In einer Dekade, als Hersteller 75.000 oder 100.000 Kilometer ohne Austauschmotor noch mit vergoldeten Schlüsselanhängern oder Uhren belohnten, war das eine geradezu unglaubliche Laufleistung. Aber nicht nur am Taxistand waren die markant klingenden und unter Last manchmal rußenden Mercedes mit Kennzeichen D bald allgegenwärtig: Auch Privatkäufer goutierten die Knauser-Motorisierung. Schließlich hatte Mercedes den seit 1936 gebauten Dieselaggregaten die anfänglich ruppigen Nutzfahrzeugmanieren so weit abgewöhnt, dass nun nicht der Benziner, sondern der 180 D zum Bestseller der Baureihe avancierte. Gut fürs Image waren dabei auch Motorsporterfolge. So dominierte Mercedes die Mille Miglia 1955 zwar mit dem legendären Sportwagen 300 SLR, aber ein 180 D holte sich einen Klassensieg und dies mit einem respektablen Durchschnitt von fast 95 km/h. Vier Jahre später triumphierte ein 190 D unter Grand-Prix-Pilot Karl Kling sogar bei der über 14.000 Kilometer langen Afrika-Rallye. Sportliche Lorbeeren, die vor allem von der Robustheit des Konzepts zeugten, denn auf den seit 1953 unlimitierten deutschen Straßen wurde der lediglich 112 km/h schnelle Mercedes 180 D von fast allen Mittelklasse-Rivalen überholt. Allein gegenüber dem allgegenwärtigen VW Käfer punktete er mit einem fürs Selbstbewusstsein der Stern-Kundschaft wichtigen Vmax-Vorteil von zwei km/h.

Andererseits waren zu hohe Geschwindigkeiten und riskante Überholmanöver, etwa durchs berüchtigte ,,Kolonnenspringen" auf Landstraßen, an der Tagesordnung auf dem noch schlecht ausgebauten deutschen Straßennetz. So verzeichneten die Unfallstatistiken trotz der noch geringen Verkehrsdichte immer neue Negativrekorde, die Zahl der Verkehrstoten war Mitte der 1950er fünf Mal so hoch wie heute. Deshalb sollten die neuen Volumenmodelle im Zeichen des Sterns auch durch Sicherheitsinnovationen reüssieren: Sogar eine Frühform der unter Sicherheitsforscher Béla Barényi 1952 patentierten Knautschzone bot der Ponton-Benz bereits, denn die Front- und Heckpartien der Karosserie waren weicher gestaltet. Unter dem eingängigen Slogan ,,Wenn Sie ganz sicher sein wollen..." verglich die Mercedes-Werbung außerdem die ,,schutzbietende Rahmenbodenanlage" der Baureihe mit der massiven Tür eines Tresors.  

Mit einer großen Modellpflege im Jahr 1959 spendierte Mercedes den Ponton-Typen 180 und 190 einen breiteren Kühlergrill, mehr Leistung für die Benziner (50 kW/68 PS im 180 und 59 kW/80 PS im 190), vor allem aber zusätzliche gepolsterte Prallflächen an Lenkrad und Armaturentafel. Ein damals noch wenig verbreiteter wichtiger Schutz vor Verletzungen. Andererseits: Für serienmäßige Dreipunkt-Sicherheitsgurte, wie sie Volvo etwa im Mittelklassemodell Amazon einführte, sahen die Schwaben vorläufig keine Notwendigkeit.

Stattdessen legte Mercedes einen ganzen Ponton-Modell-Baukasten auf, der sich Plattform und Rahmen teilte: Ob Mercedes 180 oder 190, sportlicher 190 SL oder die starken Sechszylinder 219 und 220, alle diese Typen galten in der Fachwelt als Maßstab für stilvoll verpackte Sicherheitstechnik und mit ihren modernen geräumigen Three-Box-Karosserien mit quaderförmigem Motorraum, Passagierabteil und Gepäckabteil brachten sie den amerikanischen Traum vom Fahren auf deutsche Straßen. Während Bundeskanzler Konrad Adenauer seine Wiederwahl 1953 noch im betulichen Mercedes 300 feierte und auch die neuen BMW V8-Limousinen in barocke Vorkriegsformen gekleidet waren, trafen die Benz-Baureihen mit der nach dem Glied einer Schwimmbrücke benannten Pontonform den Nerv einer fortschrittshungrigen Zeit. Neue Technik bedeutete damals Wohlstand und Sozialprestige: Deshalb investierten die Besserverdienenden in soundstarke Musiktruhen, die fast so viel wie ein VW Käfer kosteten, oder gar in eines der ersten TV-Geräte, das im Freundeskreis magnetische Anziehungskraft hatte, wenn die Krönung von Elizabeth II. oder ein Fußball-Länderspiel übertragen wurde. Die Menschen zeigten gerne, was sie sich leisten konnten, und das gelang mit einem hochpreisigen Mercedes 180 oder 190 besser als mit vergleichbar großen Opel Rekord und sogar dem flotten Borgward Isabella.

Allein die Modelle mit Stern boten deshalb auch Oberklasse-Extras wie sie die Reichen und Schönen liebten. Darunter Standartenhalter, Schlummerrollen als Kopfstützen oder als Bett nutzbare Ruhesitze, ein sperriges Autotelefon und Sonderlackierungen. Goodies, die ebenso wie die Hupe mit Zusatzfanfare, vorzugsweise bei den agilen Benzinern zu finden waren. Speziell der 1956 eingeführte Mercedes 190 mit (leistungsreduziertem) 1,9-Liter-Triebwerk aus dem Roadster 190 SL mit kettengetriebener, oben liegender Nockenwelle zählte zu den dynamischsten Vierzylinder-Limousinen auf europäischen Autobahnen, der auch manch schnellen Borgward oder Porsche 356 von der Überholspur vertrieb. Dafür genügten dem Typ 190 anfangs 55 kW/75 PS.

Das werkseitige Karosserie-Portfolio beschränkte sich beim Ponton-Benz zwar auf Viertürer, aber Mercedes lieferte auch Fahrgestelle, auf die Firmen wie Binz oder Miesen Krankenwagen- und Bestattungsfahrzeug-Aufbauten setzten. Sogar Kombis und Pick-ups gab es, speziell für Südafrika und Südamerika. Bis Anfang der 1960er blieben die Mercedes-Baureihen (W 120/121) so begehrt, dass lange Lieferzeiten die Regel waren, aber dann ging die Mode plötzlich über die Ponton-Protagonisten hinweg: Mercedes präsentierte 1961 den opulent dimensionierten 190 (W 110) im frischen Trapezdesign - und einmal mehr mit schönen Grüßen aus Amerika, diesmal in Form dezenter Heckflossen.



Chronik:

1950: Zum Jahresende wird die Entwicklung eines Nachfolgers für die konstruktiv noch aus der Vorkriegszeit stammenden Mercedes-Benz-Modelle 170 V und 170 S (W 136) vorangetrieben, dies unter dem Entwicklungscode W 120 für den künftigen Typ 180

1951: Erste Entwürfe und Prototypen zeigen den mittelgroßen W 120 im konservativen Stil des Mercedes 300 ,,Adenauer"

1952: Während der ausführlichen Fahrtests für die Baureihe W 120 gelingt einem Fotografen ein Schnappschuss eines Versuchsautos, das im Frühjahr in einer Fachzeitschrift als ,,Erlkönig"-Foto veröffentlicht wird. Erst im Sommer wird die moderne Pontonform für den Mercedes 180 definiert, der schon im Folgejahr in Produktion gehen soll
1953: Im Juli Serienanlauf des Mercedes-Benz 180 (W 120) als Nachfolger des Typs 170 Sb, aber noch mit dem 1,8-Liter-Benziner des Vorgängers. Die Markteinführung erfolgt im September. Im Oktober startet eine Vorserie von 11 Einheiten des Mercedes 180 D

1954: Im Februar erfolgt die Präsentation des Mercedes 180 D mit dem 1,8-Liter-Diesel aus dem Vorgänger

1955: Vom Karossier Binz/Lorch wird eine rechtsgelenkte Pick-up-Version des Mercedes W 120 (ab 1956 auch des W 121) aufgelegt, die in rund 400 Einheiten nach Südafrika geliefert wird und dort als Mercedes Bakkie vertrieben wird. Binz liefert aber auch für europäische Märkte Pick-up-Versionen der Mercedes-Typen 180/180 D und 190/190 D. Außerdem produziert Binz W-120/121-Kombivarianten, optional mit großem Webasto-Schiebedach. Hinzu kommen W 120/121 als Krankenwagen von Binz und Miesen, und die Karossiers Pollmann sowie Stolle bieten Bestattungsfahrzeuge aus W-120/121-Basis an. Leistungssteigerung für den 180 D, der Diesel gibt nun 43 statt 40 PS ab. Im September Produktionsauslauf des Ponton-Vorgängers Mercedes-Benz 170   

1956: Im Mai wird der Mercedes 190 (W 121) als Spitzenmodell der Stuttgarter Mittelklasse vorgestellt, dies mit neuem 1,9-Liter-Motor mit 75 PS Leistung. Bei dem Vierzylinder handelt es sich um eine gedrosselte Version des Triebwerks aus dem 105 PS starken Sportwagen 190 SL. Hinzu kommen optische Modifikationen für den W 121 wie ein minimal breiterer Kühlergrill, größere Rückleuchten, zusätzliche Zierleisten und Ausstellfenster in den Vordertüren. Neue Eingelenk-Pendelachse für bessere Fahreigenschaften. Auch für Südamerika wird eine Pick-up-Version vorbereitet

1957: Im Juli Serienstart des 180a mit auf 65 PS leistungsreduziertem Motor aus dem Typ 190. Auch die optischen Besonderheiten des Modells 190 werden übernommen - bis auf die Ausstellfenster

1958: Im August wird der Mercedes 190 D eingeführt mit neuem, 50 PS starkem 1,9-Liter-Diesel. Mercedes 180a nun auch mit vorderen Ausstellfenstern. Ein Autotelefon ist als Extra ist für die Ponton-Mercedes bestellbar

1959: Auf der Frankfurter IAA debütieren die Mercedes 180/190 in überarbeiteter Form mit dem internen Kennbuchstaben b (180b und 190b). Der Mercedes 180 verfügt nun über 68 PS Leistung und die Bremsanlage aus dem größeren 190, der Mercedes 190 leistet nun 80 PS. Alle aufgefrischten Modelle sind an einem breiteren Kühlergrill und dem Entfall der vorderen Stoßstangenhörner zu erkennen

1961: Im Frühling wird der Mercedes 190 ersetzt durch einen gleichnamigen Nachfolger (Serie W 110), die sogenannte ,,Heckflossen"-Baureihe. Der Mercedes 180 (interner Kennbuchstabe jetzt ,,c") erhält als Diesel nun ein Zwei-Liter-Aggregat mit 48 PS

1962: Im Oktober endet auch für den Mercedes-Benz 180 die Produktion

1982: Mit dem vom Volksmund ,,Baby-Benz" genannten Mercedes-Benz 190 (W 201) wird der traditionelle und erfolgreiche Typencode 190 revitalisiert  

2023: Das Jubiläum 70 Jahre Mercedes-Benz ,,Ponton" wird bei zahlreichen Club-Events und Klassiker-Messen zelebriert  

Produktionszahlen:

Insgesamt: 442.963 Einheiten, davon

Typ 180: 51.907 Einheiten

Typ 180 a: 27.155 Einheiten

Typ 180 b: 29.033 Einheiten

Typ 180 c: 9.097 Einheiten

Typ 180 D: 114.046 Einheiten

Typ 180 D b: 24.276 Einheiten

Typ 180 D c: 11.600 Einheiten

Typ 190: 60.991 Einheiten

Typ 190 b: 28.114 Einheiten

Typ 190 D: 20.493 Einheiten

Typ 190 D b: 60.598 Einheiten.

Wichtige Motorisierungen:

Typ 180: 1,8-Liter-Vierzylinder-Benziner (38 kW/52 PS)

Typ 180 (a): 1,9-Liter-Vierzylinder-Benziner (48 kW/65 PS)

Typ 180 (b/c): 1,9-Liter-Vierzylinder-Benziner (50 kW/68 PS)

Typ 180 D: 1,8-Liter-Vierzylinder-Diesel (29 kW/40 PS bzw. 32 kW/43 PS)

Typ 180 D (c): 2,0-Liter-Vierzylinder-Diesel (35 kW/48 PS)

Typ 190: 1,9-Liter-Vierzylinder-Benziner (55 kW/75 PS bzw. 59 kW/80 PS)

Typ 190 D: 1,9-Liter-Vierzylinder-Diesel (37 kW/50 PS)

Neupreise:

Mercedes-Benz 180 (1953): ab 9.950 Mark

Mercedes-Benz 180 (1954): ab 9.450 Mark

Mercedes-Benz 180 D (1954): ab 10.300 Mark

Mercedes-Benz 180 (1956): ab 8.760 Mark

Mercedes-Benz 180 D (1956): ab 9.450 Mark

Mercedes-Benz 190 (1956): ab 9.650 Mark

Mercedes-Benz 190 D (1956): ab 9.950 Mark

Mercedes-Benz 180 (1962): ab 9.350 Mark

Mercedes-Benz 180 D (1962): ab 9.850 Mark

Mercedes-Benz 190 (1958): ab 9.650 Mark

Mercedes-Benz 180 Kombi Miesen (1960): ab 13.220 Mark

Mercedes-Benz 180 Kombi Binz (1960): ab 12.000 Mark

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