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Pirelli-Kalender - Die Welt wird bunter

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  • 7. September 2023, 10:56 Uhr
  • Peter Weißenberg/SP-X
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Den neuen Pirelli-Kalender setzt der Fotograf Prince Gyasi in Szene, hier mit der Poetin Amanda Gorman (rechts) und die Autorin Margot Lee Shetterly Foto: From the behind the scenes of the 2024 Pirelli Calendar by Prince Gyasi, photo by Alessandro Scotti

Der Reifenhersteller will ein Trendsetter in der mobilen Welt sein. Der ghanaische Künstler Prince Gyasi gibt den Pirelli-Freunden bald einige Denkanstöße - und das jeden Monat.

Jahrzehntelang regierten in der Welt der Reifen drei Gewissheiten das Denken: Rund um das rollende Produkt beherrscht die Farbe Schwarz den Auftritt. Der Sex-Appeal von Reifen zielt im Wesentlichen auf Männer ab, vorzugsweise solche mit PS als Lebenselixier. Und Frauen kommen in dieser Welt bestenfalls als schmückendes Beiwerk in dieses Bild, meist spärlich bis gar nicht bekleidet. Vom Werkstatt-Poster über den Messestand bis zum Hochglanz-Kalender, von Dunlop über Michelin bis Pirelli war das gesetzt im Sittenbild der Branche und ihrer Freunde ...  das Anhängsel ,,_innen" wäre völlig fehl am Platz.

Natürlich ist dieses Bild nicht erst seit gestern von Vorvorgestern. Denn ohne Nachhaltigkeit, Diversität oder Digitalisierung läuft auch in diesem Bereich der Mobilität im Prinzip nichts mehr, um neue wachsende Kundenkreise zu begeistern. Aber so richtig bunt wird die Branche vielleicht erst in diesen Tagen. Dafür wird Prince Gyasi sorgen. ,,Ich will ein neues Bild unserer Wirklichkeit vermitteln", sagt der 28jährige Ghanaer. Eine weltweite Bühne mit Aufmerksamkeitsgarantie bietet ihm dafür der Pneu-Gigant Pirelli.

Die Firma produziert seit fast 60 Jahren den wohl berühmtesten Kalender der Branche: Nur für ein paar tausend ausgewählte Freunde der Marke - fast ausschließlich prominente, reiche, männliche - ist ein Exemplar des Pirelli-Kalenders zu haben. Alle anderen dürfen bestenfalls mal einen Blick auf einzelne Motive erhaschen, drüber reden oder davon träumen. Nicht selten erst Jahre, nachdem die VIP dieses Sehnsuchts-Exemplar bereits wieder von der Wand genommen haben. Was den Kalender so besonders macht, sind die Motive, die mit enormem Aufwand fotografiert werden: in aller Regel über die Jahrzehnte zwar auch spärlich bis fast gar nicht bekleidete Damen - aber meistens Supermodels vom Schlage einer Cindy Crawford oder Giselle Bündchen. Und die Bildkünstler hinter der Kamera (meist ältere weiße Männer) knipsten ebenfalls in der ersten Liga ihrer Branche. Richard Avedon, Peter Lindbergh oder Karl Lagerfeld beispielsweise. Stilbildend, extravagant ... aber eben doch an den drei eingangs erwähnten Leitsätzen ausgerichtet.

Doch die Zeit der weißen Reifenabdrücke auf nackter schwarzer Haut ist ungeachtet möglichen ästhetischen Reizes einfach vorbei; so ein Motiv wie 1984 gäbe es heute nicht mehr. James Bond verteilt ja auch schon lang keine Ohrfeigen mehr an superblonde ,,Pussy Galores". Doch der Gestalter des 2024-Kalenders will noch weit mehr, als Frauen auf einem gleichberechtigten Platz auch in der Reifenwelt ins Bild setzen: ,,Es geht mir um einen anderen Blickwinkel auf die Welt", sagt Prince Gyasi und lächelt breit und sonnig. ,,Als erster afrikanischer und schwarzer Künstler, der hinter einem Pirelli Cal steht, habe ich die Gelegenheit, einige der Menschen hervorzuheben, die mich im Laufe der Jahre inspiriert haben - Jahre als Kind und als Erwachsener." Etwa den Schauspieler Idris Elba, seine Majestät König Otumfuo Osei Tutu II. oder die junge Poetin Amanda Gorman. Alles schwarze ,,Role-Models" - und Ausdruck des Selbstbewusstseins einer neuen Welt, in der auch Unternehmen aus den klassischen Industrieländern ihren Platz finden müssen. Da leben schließlich Milliarden potenzieller Kunden. Allein mit dem Vorbeten der klassischen Bilder einer weißen Männerwelt und ihrer westlichen Sichtweise wird das wohl in den jungen und wachsenden Nationen der Welt nicht gelingen. Das ist sicher auch ein Grund, warum Pirelli den Künstler für seinen Jubiläumskalender gewählt hat.

,,Repräsentation und Kultur sind für mich sehr wichtig", sagt auch Gyasi. Die Hälfte seiner Fotos hat er darum in und um seine Heimatstadt Akkra gemacht. Und zwar nicht in schwarz-weiß - sondern so knallbunt, wie sonst nur in Kalendern von Meistern des Impressionismus oder aus der Unterwasserwelt der Karibik zu sehen. Prince Gyasi ist dafür bekannt, dass er seine Bilder - oft mit einem iPhone aufgenommen - digital bearbeitet und dabei die Farb- und Schattierungskontraste verstärkt. Dadurch sehen sie fast wie Gemälde aus. Mit diesem unverwechselbaren Stil ist er inzwischen in den bekanntesten Museen der Welt gelandet - und eben auch bei Pirelli.

Der Mann mit der ikonischen Zöpfchen-Frisur sieht die Welt übrigens auch deswegen so bunt, weil er an Synästhesie leidet: Die neurologische Erkrankung bewirkt, dass er Farben auf multisensorische Weise wahrnimmt. Menschen mit Synästhesie können Farben durch Hören, Riechen, Schmecken oder Schmerz wahrnehmen. Und manche verbinden Farben mit Zahlen, Buchstaben oder Wörtern. Der Dienstag etwa, an dem Prince Gyasi mit dem Autor spricht, ,,leuchtet für mich in Orange". Dass er über so etwas bereitwillig spricht, ist ein Zeichen für Offenheit. Und ein Gegensatz zum bemüht superoptimierten, technisch fehlerlosen Hochleistungs-Bild, das gerade die Automobilbranche gern von sich verbreitet. ,,Aber kraftvolle Reifen für schnelle Autos mag ich auch", sagt Gyasi dazu und lacht.

Von den Produkten des Namensgebers übrigens wird in Gyasis Kalender-Kunst 2024 eher wenig zu sehen sein. Und vielleicht wirft ja auch gerade das ein Schlaglicht auf moderne Firmen der Mobilitätsbranche, wie sie sich selber sehen möchten, welche Werte sie ins Rollen bringen wollen. Durchaus revolutionär - oder wie Prince Gyasi seinen Anspruch hinter dem Werk mit dem Titel ,,Timeless" umschreibt: ,,Ich will nicht nur einen Riss in die unsichtbare Decke reißen, nach der wir uns strecken. Ich will das ganze Dach entfernen. Für alle Menschen."

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